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Liberaler Widerstand gegen NS-Regime:Bürger gegen Hitler

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Zum 70-jährigen Gedenken an den 20. Juli 1944 stehen jetzt wieder die Verschwörer um den Attentäter Stauffenberg im Mittelpunkt. Es ist aber höchste Zeit, auch an den Sperr-Kreis zu erinnern - den liberalen Widerstand, der von Bayern ausging.

Von Wolfgang Hardtwig und Manuel Limbach

Wenn bisher bei dem rituellen Gedenken zum 20. Juli 1944 an die militärisch-bürgerliche Widerstandsbewegung gegen Adolf Hitler und das NS-Regime erinnert wurde, blieb eine wichtige Gruppe ganz außer Betracht: der Sperr-Kreis. Nicht-Spezialisten ist er bis heute völlig unbekannt. Das ist ein unverdientes Schicksal, denn in einem Gesamtbild des Widerstandes kommt ihm eine beachtliche Rolle zu.

Der Sperr-Kreis rückt die Bedeutung regionaler und einzelstaatlicher Bindungen stärker in den Vordergrund, als das die Widerstandsforschung bisher getan hat. Und er korrigiert das Bild eines hauptsächlich nationalkonservativen, weil vor allem vom preußischen Militär getragenen Elitenwiderstandes. Im Sperr-Kreis artikulierte sich zwar auch ein Widerstand von Eliten, aber diese agierten bewusst in Bayern und für Bayern und repräsentieren sozial eher eine bürgerliche Mitte als die alten, aristokratisch geprägten Eliten Preußens.

Sperr war als NS-kritischer bayerischer Patriot bekannt

Der Kreis ist benannt nach Franz Sperr, einem bayerischen Offizier, der vor 1918 im Generalstab gedient und danach bis zum Sommer 1934 als offizieller Gesandter die bayerischen Interessen in Berlin vertreten hatte. Bald nach seiner Rückkehr nach München trat er in engeren Kontakt mit Kronprinz Rupprecht. Dieser hatte im Ersten Weltkrieg als Generalfeldmarschall und Führer einer Heeresgruppe in Frankreich durchaus persönliches Format bewiesen und hoffte lebenslang auf eine Wiederkehr der Monarchie in Bayern, ohne dass er sich freilich in der Weimarer Republik auf eine antidemokratische Agitation eingelassen hätte.

Nach 1933 lag es nahe, dass NS-kritische bayerische Patrioten in ihm einen geeigneten Kristallisationskern für widerständige Aktivitäten sahen, auch wenn sie selbst bis dahin einem monarchisch-restaurativen Programm ganz ferngestanden oder sich zumindest, wie man sagte, "auf den Boden der Weimarer Verfassung" gestellt hatten.

Widerstand, der nicht ins Schema passt

In der Widerstandsforschung kommt der Sperr-Kreis bisher kaum vor. Die Gründe dafür sind freilich nachvollziehbar. Wer in der Öffentlichkeit keine lautstarken Fürsprecher hat, wird leicht vergessen. Und lautstarke Fürsprecher finden sich vor allem dort, wo der Bezug auf eine bestimmte Vergangenheit greifbare Vorteile im Kampf um öffentliche Deutungsmacht und politischen Einfluss verspricht. Ein Widerstandskreis um bayerische Liberale mit Kontakten zum Kronprinzen - so etwas hatte in der frühen Bundesrepublik erinnerungspolitisch keine Chance. Liberale hatten sich nach damaligem Kenntnisstand - an dem sich seither nicht allzu viel geändert hat - nicht eben durch Ablehnung des NS-Systems oder gar durch Akte der Resistenz von sich reden gemacht.

Für die Verbannung ins erinnerungspolitische Nirgendwo ist allerdings auch die ungünstige Überlieferungslage verantwortlich: Der Sperr-Kreis hatte aus Geheimhaltungsgründen auf jede schriftliche Festlegung seiner Überlegungen, Ziele und Aktivitäten verzichtet. Es bedurfte der Impulse aus einer auch lokalgeschichtlich interessierten Aufarbeitung der NS-Zeit vor allem in Passau, dem Geburtsort eines der Hauptakteure, Eduard Hamm, sowie familiärer Initiative, um die Forschung zum Sperr-Kreis siebzig Jahre nach der Katastrophe des 20. Juli ernstlich in Gang zu bringen.

Offener Widerstand der Linksliberalen

Auch der Kreis selbst macht es dem Beurteiler nicht leicht. Es passt nicht so recht in die parteigeschichtlichen und weltanschaulichen Schemata der Widerstandsforschung. Der Gründungsimpuls ging wahrscheinlich wirklich vom Kronprinzen Rupprecht aus. Sein Vertrauensmann Sperr zog zwei "Demokraten" (wie man damals sagte), Otto Geßler und Eduard Hamm heran. Beide hatten den bayerischen Landesverband der linksliberalen "Deutschen Demokratischen Partei" (DDP) mitbegründet und in der Reichspolitik der Weimarer Republik eine bedeutende Rolle gespielt, Geßler als langjähriger, wenn auch umstrittener Reichswehrminister (1920-1928), Hamm zunächst als bayerischer Wirtschaftsminister, Landtags- und Reichstagsabgeordneter, dann als Staatssekretär in der Reichskanzlei 1923 und als Reichswirtschaftsminister 1924.

Hamm war NS-Gegner der ersten Stunde. Schon 1920/21 wandte er sich gegen die "antisemitische Hetze" in München und verlangte im bayerischen Kabinett das Verbot des Völkischen Beobachters. Nachdem die bayerischen Liberalen 1924 im Land wie im Reich katastrophale Wahlniederlagen erlitten hatten, schied er aus der Politik aus und bestimmte als Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) dessen maßvolle liberale Interessenpolitik wesentlich mit. Im April 1933 lehnte er den ihm nahegelegten Beitritt zur NSDAP ab und trat von seinem Amt zurück. Erwähnt werden soll schließlich noch Anton Fehr. Er kam aus dem antiklerikalen, demokratischen Bayerischen Bauernbund, der 1918 den Umsturz in München mitgetragen und danach an einer prorepublikanischen Politik festgehalten hatte.

Eine interne Aufgabenverteilung im Kreis wies Franz Sperr die Kontaktaufnahme zu Vertrauensleuten bei Wehrmacht und Polizei zu, Eduard Hamm war zuständig für Wirtschaft, Justiz und Verwaltung. Otto Geßler nahm spätestens seit 1939 Verbindungen zum Ausland auf. Er sollte die Alliierten über die Vorbereitungen in Bayern in Kenntnis setzen und um Verständnis werben für die bayerisch-föderale Ausrichtung des Kreises. Ab 1943 wandte sich dann auch Kronprinz Rupprecht selbst von Florenz aus, wohin er sich 1940 zwangsweise zurückgezogen hatte, mit politischen Denkschriften an London und Washington.

Von Hamm wissen wir inzwischen aus einzelnen Berichten, wie er vorging. Er sprach zunächst in München und in Augsburg und schließlich auch andernorts in Bayern Personen an, die die er von seiner bayerischen Beamten- und Ministerzeit her oder aus dem Umkreis der Handelskammern kannte und denen er vertraute. Mit dem Syndikus der Industrie- und Handelskammer München Paul Helfrich etwa erörterte er konkrete Maßnahmen für den Fall eines Zusammenbruchs der Dritten Reichs, so die künftige Währungspolitik, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie sonstige sozialpolitische Fragen. Auf diese Weise entstand ein bayernweites Netzwerk von bis zu 80 Personen.

"Politics makes strange bedfellows"

Die Auswahl war überkonfessionell, umfasste politisch die linke und rechte Mitte der DDP bis zur BVP und schloss auch den einen oder anderen konservativen bayerischen Monarchisten ein. Ulrich von Hassell - ehemals deutscher Botschafter in Rom und dann im konservativen Widerstand aktiv - notierte nach einem seiner Gespräche mit Kreismitgliedern im Januar 1939 mit leicht ironischem Unterton: "Stimmung politisch sehr besorgt. Hamm und Gessler sind alte Demokraten, Goetz (der Leipziger Historiker und frühere DDP-Reichstagsabgeordnete Walter Goetz, Red.) alter Naumannianer. Zwischen ihren Auffassungen und denen alter Deutschnationaler bestehen heute materiell keine Unterschiede. Politics makes strange bedfellows."

Tatsächlich handelte es sich um einen Kreis von Akteuren aus dem Establishment der Weimarer Republik mit Erfahrungen und Prägungen noch aus dem Kaiserreich. Das Personal reichte vom Generaloberst Adolf Herrgott über den Kommandeur der Schutzpolizei in Nürnberg, Fritz Schade, bis zum letzten und ersten demokratisch gewählten Oberbürgermeister von München vor 1933 und nach 1945, Karl Scharnagel von der BVP (nach 1945: CSU). Zahlreiche höhere Verwaltungsbeamte, aber auch einzelne Unternehmer, wie der Augsburger Ludwig Berz, schlossen sich an, dazu kamen einige Rechtsanwälte und Richter wie der Landsgerichtspräsident in Kempten, Rudolf Flach.

Sperr-Kreis agiert zwischen Chaos und Gewalt

Die "Organisationsstruktur", so weit sich davon überhaupt sprechen lässt, war locker. Die meisten Kreismitglieder hatten keine Kenntnis voneinander. Es ging darum, verlässliche Personen zu finden, die in der erhofften, von außen oder innen herbeigeführten Umsturzsituation bereit und fähig waren, eine verantwortliche Aufgabe zu übernehmen. Die gemeinsame Überzeugungsbasis bestand in einem liberal-rechtsstaatlichen Staatsverständnis, das nach den Erfahrungen mit der zerfallenden Weimarer Republik und dem Gewaltregime des Dritten Reichs Freiheit mit staatlicher Autorität verbinden sollte.

Zum Erfahrungshintergrund dieser staatlich-gesellschaftlichen, prinzipiell freiheitlich gesonnenen Elite gehörten auch die unauslöschlichen Eindrücke von Chaos und Gewalt in der Revolutions- und Rätebewegung der Jahre 1918/19, die ja auch später entschiedene Befürworter von Republik und Demokratie wie Thomas Mann und Viktor Klemperer kurzfristig zu Anhängern einer schonungslos durchgreifenden befristeten Militärdiktatur gemacht hatten. Der weite politisch-weltanschauliche Rahmen des Sperr-Kreises machte es andererseits möglich, verfassungspolitische Festlegungen zu vermeiden.

Attentate lehnte der Sperr-Kreis ab

In den Anfangsjahren 1934/35 diskutierte man die Möglichkeit einer parlamentarischen oder konstitutionellen bayerischen Monarchie. Gegen Ende artikulierte Kronprinz Rupprecht aus Italien gegenüber den Alliierten einen deutlichen Führungsanspruch, der sich später gegenüber den Besatzungsmächten natürlich nicht verwirklichen ließ.

Attentatspläne lehnte man ab - ähnlich wie der Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke. Man wollte auf den Zusammenbruch des NS-Regimes und das dabei zu erwartende Durcheinander - wie etwa eine Machtergreifung der SS - vorbereitet sein. Franz Sperr nahm daher auch gezielt Kontakt zu führenden Militärs auf. Am prominentesten dürfte der zu Franz Halder gewesen sein, dem von Hitler im September 1942 entlassenen Generalstabschef des Heeres, auf den man wohl auch wegen seiner bayerischen Herkunft setzte.

Daneben vernetzte sich der Sperr-Kreis mit zunehmendem Kriegsverlauf auch stärker mit den bürgerlich-konservativen Widerstandsaktivitäten im Reich. Im Frühsommer 1943 besprachen sich im Pfarrhof des Jesuitenpaters Alfred Delp, St. Georg in Bogenhausen, Sperr sowie die Augsburger Franz Reisert und Joseph-Ernst Fugger-Glött mit drei Jesuitenpatres um Delp und den "Kreisauern" Theodor Steltzer, Carlo Mierendorff und - in zwei Fällen - auch Moltke selbst. Eine wirkliche Verständigung kam dabei allerdings nicht zustande.

Divergenzen gab es über Verfassungsfragen, über die zukünftige Wirtschaftsverfassung - ein nichtmarxistischer Sozialismus englischer Prägung bei Moltke, ein sozial eingehegter Liberal-Kapitalismus bei Sperr, Hamm und Gessler - und auch über die militärischen Absichten. Die Kreisauer Pläne, Bayern aufzuteilen, fanden ebenso wenig Zustimmung wie die Zumutung, mit der, wie es heißt, "preußische Generäle (. . .) durch die Vermittlung des Grafen Moltke" an die Bayern herantraten: "Bayern solle mit einem bewaffneten Aufstand vorausgehen, sie würden daraufhin ebenfalls losschlagen".

Sperr-Kreis war maßgeblich am Umsturz beteiligt

Auch Carl Goerdeler - ehemals Oberbürgermeister von Leipzig und Kopf des zivilen Widerstandes in Berlin - suchte 1943 den Kontakt. Der lief über Eduard Hamm, den Goerdeler noch aus dessen Zeit im DIHT hoch schätzte. Hamm allerdings stand Goerdeler mit Vorbehalten gegenüber, er nannte ihn einen "Hitzkopf" und seine Ideen über einen Ständestaat "etwas verworren".

Hamm stand auch mit ehemaligen politischen Kollegen und Freunden aus der Berliner Ministerialbürokratie in Verbindung und hielt den Kontakt zu seinen ehemaligen Parteifreunden in der DDP wie Theodor Heuss, Eugen Schiffer und Hermann Dietrich. Otto Geßler tauchte in einer Liste der Berliner Verschwörer als Politischer Beauftragter für den Wehrkreis VII auf.

Kurz vor dem Attentat am 20. Juli traf sich schließlich Claus Schenk Graf von Stauffenberg an seinem Wohnort in Bamberg mit Franz Sperr und unterrichtete ihn über die Attentatspläne. Spätestens ab 1943 dürfte man demnach in den Berliner Führungskreisen des militärisch-zivilen Widerstands den Sperr-Kreis als wichtigen Faktor für die Umsturz-Vorbereitung wie für den Wiederaufbau Deutschlands eingeschätzt haben. Sperr scheint zwar Bedenken vor allem gegen den Zeitpunkt des geplanten Umsturzes geäußert, trotzdem aber die bayerische Unterstützung signalisiert zu haben.

Sperr wurde zum Tode verurteilt

Wahrscheinlich ist dem Sperr-Kreis gerade dieses Treffen Sperrs mit Stauffenberg zum Verhängnis geworden. Kurz nach dem Attentat wurden zunächst Otto Geßler, Franz Sperr und Anton Fehr verhaftet, Eduard Hamm folgte am 2. September 1944. Geßler wurde in der Haft schwer gefoltert, kam aber mit dem Leben davon - vermutlich auch deshalb, weil Eduard Hamm beim Verhör im Gefängnis an der Lehrter Straße eisern schwieg und mit einem Sprung aus dem Fenster im 3. Stock den Freitod wählte.

Franz Sperr und die Augsburger Mitverschworenen Reisert und Fugger-Glött mussten die Hasstiraden Roland Freislers über sich ergehen lassen, des Präsidenten des Volksgerichtshofes. Reisert und Fugger-Glött wurden zu mehrjährigen Haftstrafen, Sperr hingegen wegen Nicht-Anzeige der Attentatspläne zum Tod verurteilt und am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Die Geheimhaltungsstrategie und die Solidarität der Führungsleute im Kreis hatten sich bewährt, waren allerdings mit dem Tod von Sperr und Hamm schwer erkauft. Einige der überlebenden Mitglieder des Sperr-Kreises beharrten nach 1945 darauf, die Wittelsbacher Monarchie wiederherzustellen. Die überwiegende Mehrheit engagierte sich in teilweise prominenter Stellung am erfolgreichen Wiederaufbau eines freiheitlichen Rechtsstaates, vor allem in der Kommunalverwaltung, in den bayerischen Landesbehörden und in der wirtschaftlichen Selbstverwaltung.

Eine Würdigung des Sperr-Kreises ist überfällig

Es ist höchste Zeit, den Hauptakteuren und auch den unauffällig gebliebenen Mitgliedern des Sperr-Kreises Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - um ihrer selbst willen, aber auch um das Gesamtbild des deutschen Widerstandes zu vervollständigen. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich zu Recht und mit Erfolg bemüht, den Begriff "Widerstand" zu differenzieren und auch den wenig spektakulären, alltäglicheren Formen von Widerständigkeit oder Resistenz nachzuspüren.

Im Sperr-Kreis findet sich ein breites Spektrum von Verhaltensmöglichkeiten, von der bloßen, wenn auch niemals risikofreien Abwehr der ideologischen und menschlichen Zumutungen im eigenen, überschaubaren Verantwortungsbereich bis zur hochriskanten, staatstheoretisch reflektierten Vorbereitung des Übergangs vom Nationalsozialismus zu einer neuen freiheitlichen politischen Ordnung. Heimatlich-regionale und nationale Wertvorstellungen verbanden sich mit bürgerlichem Verantwortungsbewusstsein und einem in manchen Fällen sehr ausgeprägten christlich fundierten Entsetzen über die Inhumanität des Nazi-Regimes.

Das trübe Licht, das auf das Verhalten des deutschen Bürgertums im Dritten Reich fällt, lässt sich insgesamt wohl nur wenig aufhellen. Aber eine neue Würdigung des Sperr-Kreises ist überfällig - sie kann dazu beitragen, dem Bild wichtige neue Nuancen hinzuzufügen.

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Quelle:
SZ vom 18. Juli 2014
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