Drei Prozent. Immer noch. Zum Jahresende hat Forsa wieder eine Wahlumfrage veröffentlicht, und sie ist für die FDP so verheerend ausgefallen wie all die anderen zuvor; noch verheerender war in diesem Jahr nur das eine oder andere tatsächliche Wahlergebnis. Und was darf eine Partei wohl als Nächstes erwarten, wenn ihre führenden Vertreter Hoffnung nun daran festmachen, dass man endlich wieder einen Generalsekretär hat, der angeblich die Attacke beherrscht?
Die Krise derjenigen, die sich "Liberale" nennen, ist existentiell; auf diese These können sich wahrscheinlich viele einigen - und zwar schon deshalb, weil sie so praktisch ist: Sie lenkt davon ab, dass es den beiden anderen großen politischen Strömungen, dem Konservatismus und dem Demokratischen Sozialismus, im Grunde ja auch ziemlich dreckig geht.
Das Besondere an der Krise des Liberalismus ist, dass sie besonders offensichtlich ist. Diese Strömung erklärt sich in einer Demokratie nicht von selbst. Wer in einem freien Land angibt, für Freiheit zu kämpfen, macht sich erst einmal verdächtig: Entweder er gilt als Eulen-nach-Athen-Träger, der inhaltliche Leere mit einer pathetischen Floskel überdecken will. Oder ihm wird unterstellt, unter Verwendung eines gefälligen Wortes all die Schutzmauern einreißen zu wollen, die den Menschen in einer kapitalistischen Welt doch eine Art von Sicherheit geben.
Der Liberalismus ist immer in Gefahr, als Zumutung empfunden zu werden. Ja doch, es gab mal die Freiburger Thesen, dieses sozialliberale Programm von 1971. Ja, es gibt derzeit einen FDP-Entwicklungsminister, der seine Sache sogar recht ordentlich macht. Solche Beispiele sind jedoch allenfalls dazu gut, dass sie FDP-fernen Wählern zu der Erkenntnis verhelfen: So schlimm sind diese Liberalen jetzt auch wieder nicht. Was den prägenden Vertretern dieser Partei und dieser Strömung jedoch fast nie gelingt, ist, einem größeren Publikum eine verständliche, attraktive Übersetzung von Liberalismus in Alltagspolitik zu liefern. Mit der Folge, dass Existenzangst und FDP ein Wortpaar sind wie einst Außenminister und Genscher.
Dem Konservatismus geht es nur scheinbar besser. Vor allem dem sich als links verstehenden Teil der Gesellschaft war er immer suspekt, was sich schon daran zeigt, dass Sozialdemokraten gern von den "Konservativen" sprechen, wenn sie ein polemisches Synonym für CDU/CSU brauchen. Der Konservatismus in Deutschland leidet, dies aber weitgehend unbemerkt - weil es hierzulande keine rein konservative Partei gibt (zum Glück der Konservativen übrigens; bleiben diese unter sich, werden sie nämlich ganz schnell reaktionär).
Stattdessen bilden die Konservativen in den Unionsparteien eine von insgesamt vier Wurzeln, neben der christlichen, der liberalen und der sozialen. Aber wie sehr sie sich sorgen, wenigstens noch als Teil dieses Wurzelwerks wahrgenommen zu werden, das zeigte vor kurzem die Bildung des "Berliner Kreises" aus Unionspolitikern um den hessischen Fraktionschef Christean Wagner. Die CDU legte immer Wert auf die Herstellung weltanschaulicher Geschlossenheit. Wer dort die Bildung einer Art Unterpartei für nötig hält, der greift fast schon zum letzten Mittel.
Die großen politischen Ideologien haben ihre Ursprünge im 19. Jahrhundert, sie bildeten sich mit den Nationalstaaten und der Industriegesellschaft heraus, und sie trugen im 20. Jahrhundert, im Gegeneinander zwischen Demokratie und Kommunismus. Der hat sich erledigt, ebenso wie die Milieus in Auflösung sind, in denen diese Gedankengerüste errichtet wurden.
Piratenpartei wird immer populärer
Scheinbar haben diese Ideologien zur Klärung heutiger Fragen wenig beizutragen; es argumentiert jedenfalls kaum jemand offensiv mit ihnen. Das gilt ebenso für den Demokratischen Sozialismus, der in hundert Jahren so vieles erkämpft hat und der nun, in Gestalt der SPD, durchaus froh ist, ein paar Jahre in der Opposition entspannen zu dürfen. Die Alternative wäre, in Zeiten leerer Kassen das Grundanliegen "Gerechtigkeit" täglich neu definieren zu müssen. Das hatten die Sozis erst, und von 2013 an steht es ihnen womöglich wieder bevor.
Es ist alles andere als erstaunlich, dass exakt in dieser Phase eine Gruppe wie die Piratenpartei populär wird. Vielleicht ist sie ja nur ein vorübergehendes Phänomen, vielleicht etabliert sie sich. Jedenfalls, sie verkörpert den Zeitgeist: Sie ist nicht links, sie ist nicht rechts, nicht einmal grün, und keinen Einwand vermögen ihre Wähler so leicht zu kontern wie den, Piraten stellten nur Fragen, doch auf nichts hätten sie eine Antwort. Na und, erwidern sie dann, ob das denn bei den anderen so viel anders sei?
Die Paradoxie dieser Zeit ist, dass viele Menschen sich einerseits von Ideologien und Strömungen verabschiedet haben, andererseits aber hinter all den Einzelentscheidungen zu Steuern, Euro oder Energie ganz gerne wieder ein Gedankengerüst erkennen würden. Der geflüchtete FDP-Generalsekretär Lindner ließ gelegentlich erkennen, dass ihm diese Paradoxie zumindest bewusst war. Wer mit seinem Nachfolger nun die Rückkehr der "Abteilung Attacke" ersehnt, offenbart, dass er das meiste erst noch zu begreifen hat. Der nächste Maulheld? So einer hat dem Liberalismus gerade noch gefehlt.