Süddeutsche Zeitung

Libanon:Eine Nation im freien Fall

Frankreichs Präsident Macron lädt an diesem Montag zu einer Libanon-Konferenz. Der Staat ist pleite, nur die Zahlungen aus dem Exil verhindern Hungertote und die Rückkehr zur Gewalt. Doch die politische Elite stemmt sich gegen Reformen.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Delegationen aus sechs Ländern wollen am Montag in Paris einen Ausweg aus der politischen und finanziellen Krise finden, die Libanon seit 2019 fest im Griff hält. Ägypten, Saudi-Arabien, Katar, die USA und Frankreich dürften Regierungsvertreter und die Delegationen der verschiedenen politischen Lager aus Libanon hinter verschlossenen Türen heftig unter Druck setzen. Denn das derzeitige politische Vakuum verhindert die von dem Internationalen Währungsfond (IMF) geforderten drastischen Wirtschaftsreformen. Das libanesische Pfund hat innerhalb von drei Jahren mehr als 95 Prozent seines Wertes eingebüßt.

Auf der letzten von dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron einberufenen internationalen Libanon-Konferenz in Beirut hatten die Teilnehmerländer humanitäre Hilfe in Höhe von 370 Millionen Dollar zugesagt. Der Verbleib der Gelder ist weitgehend ungeklärt. Nach einer aktuellen Untersuchung der Weltbank leben mehr als 70 Prozent der 5,6 Millionen Libanesen in ihrer Heimat unterhalb der Armutsgrenze und verfügen über weniger als 14 Dollar am Tag. Doch seitdem der ehemalige Präsident Michel Aoun im Oktober zum Ende seines Mandates den Präsidentenpalast verlassen hat, herrscht politische Apathie. Viele Libanesen versuchen, wegen der täglich mehrstündigen Stromausfälle und dem Verlust ihrer Ersparnisse zu emigrieren.

Während ihres Besuchs in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad warnte die französische Außenministerin Catherine Colonna vor den katastrophalen Auswirkungen der Krise auf die gesamte Region. "Die ökonomische Lage in Libanon ist surreal und auch für uns krisengewöhnten Libanesen einmalig", sagt der Wirtschaftsexperte Karim Emile Bitar aus Beirut. "Die Weltbank hat die Situation völlig korrekt analysiert. Auch nach dem Finanzkollaps im Jahr 2019 hätte uns der vom IMF vorgelegte Rettungsplan vor dem Verlust unserer Ersparnisse schützen können. Doch einige Politiker, zusammen mit Aktionären privater Firmen und dem Chef der Zentralbank, haben die internationalen Bemühungen zur Rettung Libanons torpediert."

Gegen den Zentralbankchef wird ermittelt

Experten wie Bitar macht vor allem der Absturz des Bruttoinlandsproduktes um fast 70 Prozent Sorgen. "In anderen Ländern hat ein derartiger Rückgang der Produktivität in eine Welle von Streiks und schließlich in eine Spirale der Gewalt geführt", so Bitar. In Paris wird es wohl dennoch nicht um die von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds ausgiebig analysierte Finanzkrise gehen. Macron erhofft die Einigung auf einen für alle Fraktionen akzeptablen Präsidentschaftskandidaten und einen neuen Zentralbankchef.

Gegen Riad Salameh, den langjährigen Chef der Zentralbank, wird in sechs europäischen Ländern wegen Korruption und Geldwäsche ermittelt. Angeblich flossen 325 Millionen Dollar von der Zentralbank auf ein Firmenkonto auf den Jungfraueninseln, das dem Bruder von Salameh zugeordnet wurde. Die derzeitige politische Elite versuche, die im Juni endende Amtszeit Salamehs zu verlängern, um Ermittlungen wegen ihrer krummen Geschäfte mit der Zentralbank zu verhindern, kritisiert Karim Bitar. Ein Vorwand dafür wäre das durch das unbesetzte Präsidentenamt geschaffene politische Vakuum.

Bis vor zwei Jahren sahen auch europäische Länder in Riad Salameh einen Stabilitätsfaktor. Doch die Aufdeckung der illegalen Geldflüsse von Zentralbankkonten ins Ausland hat bei Libanesen und Diplomaten zum endgültigen Vertrauensverlust gegenüber allen Institutionen geführt. Nun sind es die Überweisungen der mehr als acht Millionen ausgewanderten Libanesen, die das Land retten. In den Ausgehvierteln sind die wiedereröffneten Bars und Hotels sogar wieder voll. "Wir ignorieren einfach das libanesische Pfund und die Bank, alles funktioniert nun mit Bargeld und auf Dollarbasis", sagt ein Restaurantbesitzer im Bezirk Gemmayzeh.

Katar wird zum Strippenzieher in Libanon

Saudi-Arabien und andere Golfstaaten haben ihre Investitionen und politischen Ambitionen zurückgefahren. Die Ausnahme ist Katar, das sich neben der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich zu dem einflussreichsten Strippenzieher in Libanon gemausert hat. Libanesische Politiker reisen regelmäßig nach Doha, das auch schon mehrmals die Soldzahlungen der schwach ausgerüsteten libanesischen Armee beglich.

Der staatseigene Energieriese Qatar Energy übernahm den russischen Anteil an einem Firmenkonsortium, das künftig Gas vor der libanesischen Küste fördern will. In seltener Einigkeit hatten die ansonsten verfeindeten politische Lager vergangenes Jahr einem Vertrag mit Israel über die Förderung auf dem riesigen Gasfeld zugestimmt. Katars Engagement ändert die komplizierte Machtbalance des multireligiösen Staates. Während Saudi-Arabien die sunnitischen Milizen und Parteien offen unterstützte und den Einfluss der Iran-freundlichen schiitischen Hisbollah-Miliz bekämpfte, gilt Katar als Partner Irans und der Hisbollah, der Erzfeinde Israels. Die Hisbollah kämpfte gleichzeitig an der Seite des syrischen Regimes von Baschar al-Assad.

"Auch die für Milizen offenen Grenzen nach Syrien fördern die Schattenwirtschaft", sagt Karim Emile Bitar. "Aber die Aussagen unserer Politiker, dass der Krieg in Syrien ein Grund für die Krise in Libanon sei, sind eine faule Ausrede. Ausschließlich die Blockade des Rettungsplans und der grundsätzlichen Reform in Libanon ist Grund für die jetzige Katastrophe." Wie viele Vertreter der Zivilgesellschaft fordert Bitar von der EU eine klare Haltung. "Nur Sanktionen gegen die Verantwortlichen helfen uns jetzt noch. Zukünftige finanzielle Hilfe muss an Bedingungen geknüpft werden."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5745545
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/stad
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.