Eine Explosion in einem Lagerhaus zerstörte am 4. August große Teile des Hafens von Beirut sowie umliegende Wohngebiete. Libanon gehört weltweit zu den am stärksten verschuldeten Staaten. Wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise droht dem Land ein Staatsbankrott. Als Managing Director of Operations kümmert sich Axel van Trotsenburg seit Oktober 2019 darum, dass die Weltbank den Bedürfnissen ihrer Mitgliedsländer gerecht wird.
SZ: Herr van Trotsenburg, keinen Monat nach der Explosionskatastrophe von Beirut hat die Weltbank einen ersten Schadens- und Bedarfsbericht erstellt. Was sind Ihre zentralen Erkenntnisse?
Axel van Trotsenburg: Wir gehen davon aus, dass allein die Schäden durch die Explosion 3,8 bis 4,6 Milliarden Dollar betragen - nur Gebäude und Dinge. Dazu muss man Verluste rechnen, die für Staat, Unternehmen und Bürger entstehen, weil Teile der Wirtschaft seither brachliegen. Wir gehen von einem Minus von 2,9 bis 3,8 Milliarden Dollar aus. Für alle Bereiche, Wohnungsbau, Infrastruktur, Soziales, haben wir zudem Empfehlungen gegeben, was kurz- und mittelfristig beim Wiederaufbau priorisiert werden sollte.
Angesichts der totalen Zerstörung in Beirut und der Summen, die in Europa zur Rettung der Wirtschaft ausgegeben werden, wirkt Ihre B ilanz fast überschaubar.
Sie müssen das in Relation zum Bruttonationaleinkommen sehen. Wir gehen davon aus, dass es um etwa zehn Prozent fallen wird. Für Libanon sind das gewaltige Beträge. Allein bis Jahresende sehen wir einen Bedarf von 1,8 bis 2,2 Milliarden Dollar nur für das Allernötigste. Aber auch die müssen erst aufgetrieben werden.
Auf Basis welcher Daten haben Sie den Schadensbericht erstellt?
Wir haben Erfahrung, etwa bei Schäden nach Hurrikans und anderen Naturkatastrophen. Wir nutzen spezielle Satellitenaufnahmen und seit dem Erdbeben in Haiti 2010 Drohnenbilder. So erhalten wir relativ schnell belastbare Daten. Dazu kommen im Fall Beiruts Daten der Stadtverwaltung und aus dem Privatsektor.
Libanon stand als Staat bereits vor der Explosionskatastrophe am Abgrund .
Das Land litt unter Covid und einer Währungs-, Finanz- und Wirtschaftskrise. Schon vor der Explosion lebten 45 Prozent unter der Armutsgrenze, 22 Prozent in extremer Armut. Schnell den Aufbau zu organisieren, und alles ist wieder gut, ist im Kontext von Libanon nicht möglich. Unser Bericht macht klar: Zum Wiederaufbau müssen Reformen kommen.
"Building back smarter" ist ein gut klingender Slogan im Bericht. Was heißt das ?
Wir brauchen Umdenken in vielen Sektoren: So tragisch die Katastrophe vom 4. August war, hoffen wir, dass sie in einigen Bereichen Anstoß zum Neubeginn sein kann. Etwa der Hafen: Der wurde seit 30 Jahren auf Basis von Arrangements geführt, die nur als Übergang gedacht waren. Das führte zu enormen Kosten und dazu, dass Dinge gelagert wurden, die dort nicht sein sollten. Um den Hafen auf das Niveau Bremens oder Rotterdams heben, brauchen wir eher einen Neu- als Wiederaufbau. Beim Hafen anzufangen, hätte Sinn, auch symbolisch: Von hier ging das Unglück aus - hier startet der Neuanfang. Es gibt in Europa viel Willen, mit besten Experten zu helfen. Die Chance sollte Libanon nutzen.
Ihr Bericht appelliert also an die internationale Gemeinschaft und an Libanons Eli ten , mit Reformen Ernst zu machen?
Absolut. Durch die Pandemie gibt es in Industrieländern enormen Druck auf die Budgets. Stellt man nicht sicher, dass Spenden gut verwendet werden, ist es schwierig, Steuerzahlern die Ausgaben zu erklären. Libanons Politiker müssen verstehen: Gibt es Reformen, ist die internationale Gemeinschaft da. Sonst wird es schwierig.
Ihr Bericht empfiehlt Hilfsgelder für Hunderttausende. Ihr gleichzeitiges Drängen auf Reformen in allen Ehren: Korruptionsbekämpfern werden da die Haare zu Berge stehen.
Wir versuchen, den Ärmsten der Armen zu helfen, in Libanon sind das etwa 500 000 Menschen. Solche Programme haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich versuchen wir zu garantieren, dass unsere Gelder da ankommen, wo sie es sollen. Wir haben durch Erfahrung mit Korruptionsbekämpfung Systeme, die bei Sozialprojekten auf Transparenz und effektive Kontrolle abzielen.
Staatschefs wie Emmanuel Macron achteten darauf, dass Gelder nicht an den korrupten Staat fließen, sondern etwa an internationale Organisationen.
Wir als Weltbank wurden 1944 gegründet, um den Wiederaufbau von Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zu finanzieren - seither gehen unsere Mittel in den jeweiligen Staaten an die öffentliche Hand. Das ändern wir jetzt nicht, das wäre nicht sinnvoll: Wir wollen keine Parallelstrukturen aufbauen, die neue Abhängigkeiten schaffen. Wir versuchen, die richtige Verwendung des Gelds zu sichern - etwa indem man Gruppen der Zivilgesellschaft einbindet, die wie Kontrollinstanzen wirken.
Sie lebten in Argentinien, als der Staat bankrottging, haben Banda Aceh nach dem Tsunami 2004 und Haiti nach dem Erdbeben 2010 begleitet. Ist Ihnen so eine Verquickung von dysfunktionalem Staat und akuter Katastrophe schon begegnet?
Ich fand es nie nützlich, Rankings aufzustellen und Ländern, die leiden, noch einen Schlag zu geben - im Sinn, dass sie schlechter sind als andere. Wir dürfen uns nicht zu Richtern über Staaten aufschwingen. Wir können beraten, auf Erfahrungen verweisen. Letztlich muss sich Libanon selbst helfen. Das wird schon so nicht leicht.