Süddeutsche Zeitung

Proteste in Beirut:"Jetzt hält mich nichts mehr"

Bislang demonstrierten vor allem junge Libanesen für eine Neuordnung des politischen Systems. Doch nach der Explosion im Hafen von Beirut zeigen auch ältere Menschen ihre Wut über die Ereignisse im Land.

Von Moritz Baumstieger, Beirut

Der Lärm am zentralen Märtyrerplatz war ohrenbetäubend: Am Samstagnachmittag schlugen nahe der Blauen Moschee die ersten Tränengasschwaden in den blauen Himmel. Im Zentrum Beiruts hatten sich die Menschen zu einer Trauer- und Protestkundgebung versammelt.

Schon in den ersten drei Tagen nach der verheerenden Explosion am 4. August im Hafengelände, bei der mehr als 150 Menschen ums Leben kamen und mehr als 6000 verletzt wurden, waren die Bewohner Beiruts nicht in Schockstarre verfallen: Sie hatten begonnen, den Schutt und die Trümmer beiseite zu räumen, versuchten, Wohnungen wieder begehbar zu machen, kümmerten sich in großer Solidarität um jene, die nun vor dem Nichts stehen. Am vierten Tag dann, dem Samstag, war die Wut das vorherrschende Gefühl.

Schon die Flugblätter, die ab Freitag in der gesamten Stadt verteilt wurden, setzten den Ton: "Baut die Galgen auf", stand auf ihnen. Während hier jedoch lediglich ein einzelner Protestzug angekündigt wurde, der sich vom hafennahen Viertel Gemayzeh in Richtung Zentrum bewegen sollte, strömten am Samstag vom Nachmittag an die Menschen aus allen Richtungen in die Stadt. Der Märtyrer-Platz, auf dem schon seit Herbst 2019 junge Aktivistinnen und Aktivisten für einen Sturz der Regierung und eine völlige Neuordnung des politischen Systems demonstriert hatten, war rasch überfüllt.

Ebenso rasch spitzte sich die Situation in den Straßen zu, die zum Parlament und zum Regierungssitz führten - bald waren auch Schussgeräusche zu hören. Über Whatsapp-Gruppen kursierten Bilder von blutenden Demonstranten. Bei den Zusammenstößen wurde nach Angaben der Sicherheitskräfte ein Polizist getötet. Mehr als 200 Menschen seien verletzt worden, meldete das libanesische Rote Kreuz. Der Nachrichtensender Al Jazeera berichtet sogar von mehr als 700 Verletzten.

Mit Einbruch der Dunkelheit eskalierten die Straßenschlachten nochmals, erst im Laufe des Abends gelang es der Polizei und den Sicherheitskräften, die Demonstranten zurückzudrängen. Manche wollten jedoch nicht mitmachen beim Einsatz gegen das wütende Volk. Berichten lokaler Medien und Aktivisten zufolge verweigerten sich die Männer und Frauen der Berufsfeuerwehr der Anweisung, mit ihren Wagen auszurücken und die Löschfahrzeuge als Wasserkanonen einzusetzen - ihre Solidarität sei mit den Demonstranten.

Bis die Vorsichtsmaßnahmen gegen das neuartige Coronavirus der Protestbewegung im Frühjahr ein vorläufiges Ende gesetzt hatten, war es vor allem die junge Generation gewesen, die die Demonstrationen getragen hatten. Am Samstag war das Bild ein anderes. Neben vielen jungen Freiwilligen, die teils noch die Besen dabei hatten, mit denen sie bis eben die Straßen von Scherben und Splittern befreit hatten, gingen nun auch ältere Menschen auf die Straße.

"Doch wenn wir dieses System dieses Mal nicht besiegen: Wann dann?"

Auch bei ihnen war der Ärger über die Korruption und die Misswirtschaft, über die Währungs-, Versorgungs- und Finanzkrise schon vor der Katastrophe vom 4. August enorm. Bisher habe ihn die Erinnerung an den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 davon abgehalten, auf die Straße zu gehen, sagte etwa der 60-jährige Richard Khatoum aus dem bürgerlichen Viertel Achrafie der SZ. "Jetzt hält mich nichts mehr. Diese Politiker sollen in der Hölle brennen."

Und so ging auch die vorerst größte Zuspitzung zunächst nicht von jüngeren, sondern von älteren Libanesen aus: Eine Gruppe pensionierter Soldaten und Offiziere stürmte gemeinsam mit anderen Demonstranten das Außenministerium. Aktenschränke wurden geplündert, das Gebäude wie auch andere Ministerien mehrere Stunden besetzt gehalten. Banken und andere Regierungsgebäude brannten.

Die Politiker, für die symbolische Galgen aufgebaut wurden und die teils als Pappfiguren am Strick baumelten, scheinen den Ernst der Lage nur in Teilen begriffen zu haben. Klare Bekenntnisse zur Verantwortung für das Unglück und die vielen anderen Krisen, die Libanon plagen, bleiben bisher weitgehend aus. Premier Hassan Diab sprach sich am Samstagabend in einer Ansprache immerhin für vorgezogene Neuwahlen aus.

Am Sonntag kündigte zudem die libanesische Informationsministerin Manal Abdel Samad ihren Rücktritt an. Sie begründete ihren Schritt mit der Unfähigkeit der Regierung, Reformen durchzuführen, er sei eine "Antwort auf den Wunsch der Menschen nach Veränderung".

Doch vor allem der 84-jährige Präsident Michel Aoun wird mit seinen Aussagen immer mehr zur Zielscheibe der Wut der Demonstranten: Anstatt seinen Bürgern beizustehen, weist er lieber darauf hin, dass seine Autorität und sein Aufgabenbereich den Hafen nicht umschließen. Eine internationale Untersuchungskommission zur den Hintergründen der Explosion lehnt er ab, er möchte, dass ein Militärgericht die Untersuchung zur Katastrophe leitet - obwohl die Armee selbst daran beteiligt war, dass die 2750 Tonnen Ammoniumnitrat nie abtransportiert oder zumindest sachgemäß gelagert wurden.

"Dass es Blut geben wird, ist klar. Wir laufen auf ein Massaker zu", sagt die junge Aktivisten Elian Khoury. "Doch wenn wir dieses System dieses Mal nicht besiegen: Wann dann?"

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