Europäische Union:Was die EU für kommendes Jahr plant

EU-Kommissionspräsidentin hält Rede zur Lage der Union

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Rede zur Lage der Union in Straßburg

(Foto: dpa)

Bessere Pandemie-Prävention, mehr Kooperation in der Verteidigung, Schutz des Rechtsstaats: Kommissionschefin Ursula von der Leyen kündigt in ihrer Rede zur Lage der Union vieles an. Doch Europaabgeordnete fordern Taten - und nicht nur Worte.

Von Björn Finke, Josef Kelnberger und Matthias Kolb, Straßburg

Die Frau kommt keine Minute zu früh: Um neun Uhr soll es losgehen mit dem großen Aus- und Rückblick, und es ist 8.59 Uhr, als Ursula von der Leyen den Plenarsaal des Europaparlaments in Straßburg betritt. Die Präsidentin der EU-Kommission geht die ersten Reihen des Halbrundes entlang und begrüßt Abgeordnete, natürlich coronagerecht ohne Händeschütteln. Sie setzt sich kurz an ihren Platz, steht wieder auf, spricht mit Kommissaren, setzt sich wieder hin, zieht die Mund-Nasen-Maske ab, wird aufgerufen und geht zum Rednerpult.

Dort zieht die Deutsche in den kommenden 59 Minuten Bilanz über das vergangene Jahr, und sie kündigt in dieser Rede zur Lage der Union - der zweiten in ihrer Amtszeit- einen Strauß neuer Initiativen an. Da geht es um die Gründung einer Behörde zum Gesundheitsschutz, um die Förderung der Chipproduktion, um bessere Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen oder um die Beziehungen zu Staaten in Asien. Von der Leyen verspricht ein Hilfspaket für Afghanistan in Höhe von 100 Millionen Euro, zudem sollen weitere Corona-Impfstoffe gespendet werden. Die Abgeordneten reagieren am Ende mit Applaus - aber auch mit harscher Kritik.

"Ich höre Ihre Worte, aber sehe keine Taten", klagt Dacian Cioloș. Von der Leyen habe nicht den "politischen Mut", um den seit Januar gültigen Rechtsstaatsmechanismus gegen Länder wie Polen oder Ungarn einzusetzen, sagt der Liberale und droht mit einer Klage gegen die Kommission. Cioloș wirft ihr vor, das Europaparlament zu missachten: "Sie machen Kompromisse mit den Mitgliedstaaten anstatt mit uns Politik zu machen." Philippe Lamberts von den Grünen fordert wiederum mehr Ehrgeiz im Kampf gegen die Klimakrise.

Positiver reagiert Manfred Weber auf die Rede seiner Parteifreundin. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) fordert, dass die EU die Schaffung neuer Arbeitsplätze zur Priorität machen sollte: Zehn Millionen neue Jobs seien möglich. Der CSU-Politiker ist insgesamt zufrieden, wie die Pandemie bewältigt wurde. "Die Krise begann in China, aber die Lösung fanden wir in Europa", sagt Weber und lobt die schnelle Entwicklung der Corona-Impfstoffe in der EU.

Dieses Thema nimmt auch viel Raum ein, als von der Leyen auf die vergangenen zwölf Monate zurückblickt. Sie erinnert an die gemeinsame Reaktion der EU auf die Pandemie, an die Impfstoffbeschaffung, an den Start des 800 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfstopfs. Die Deutsche verweist zugleich auf eine andere globale Krise - die Erderwärmung - und auf den Grünen Deal, das ehrgeizige Klimaschutzprogramm, auf das sich die EU geeinigt hat. Kommission, Parlament und Mitgliedstaaten hätten bei diesen Krisen gemeinsam gehandelt, "als ein Europa. Und darauf können wir stolz sein." Für Selbstkritik, die sie im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung jüngst andeutete, hat von der Leyen diesmal keine Zeit.

"Quälend langsame Fortschritte" in der Migrationspolitik

Das Vorbild für diese Reden, die es seit dem Jahr 2010 gibt, ist die "State of the Union Address" der US-Präsidenten. Im Vergleich zu von der Leyen und deren Vorgängern in Brüssel hat ein amerikanischer Präsident allerdings den Vorteil, Chef einer echten Regierung zu sein. Das macht es einfacher, Ankündigungen aus den Reden später auch umzusetzen. Die EU-Kommission hingegen ist nicht die Regierung von Europa. Sie kann zwar Gesetze und Initiativen vorschlagen, und das Europaparlament kann diese auch begeistert unterstützen. Doch wenn am Ende die nationalen Regierungen nicht mitspielen, wird nichts aus den schönen Plänen. Ebenso misslich ist es, wenn wichtige Mitgliedstaaten nicht entscheiden können, weil sie gerade mitten im Wahlkampf stecken. So wie Deutschland gerade und Frankreich in einem guten halben Jahr.

Von der Leyen ist daher Antreiberin, Moderatorin und Schiedsrichterin - nicht aber Europas Antwort auf Joe Biden. Das zeigt sich auch in ihrer Rede zur Lage der Union. So bleibt ihr bei manch wichtigem Thema nichts anderes übrig, als die Mitgliedstaaten zu mahnen, sich endlich zu bewegen: etwa beim Migrationspakt, den die Kommission genau vor einem Jahr vorgeschlagen hat. Flüchtlinge sollen fair zwischen Mitgliedstaaten verteilt werden, doch hier geht es nicht voran. Von der Leyen klagt nun über "quälend langsame Fortschritte".

Heikel ist auch die Debatte über das Gesetzespaket, mit dem die Kommission die ehrgeizigen Klimaschutzziele umsetzen will. Von der Leyen lobt sich selbst dafür, dass die EU "die erste große Volkswirtschaft" sei, die dafür "umfassende Rechtsvorschriften" vorgelegt habe. Aber sie warnt zugleich, dass Europäisches Parlament und Mitgliedstaaten bitte "an dem Paket und den ehrgeizigen Zielen festhalten" sollten.

Erstes großes Thema ihrer Rede ist aber der Kampf gegen die Pandemie - passenderweise, denn der bestimmt bislang ihre Amtszeit. Von der Leyen musste sich harsche Kritik anhören, als Anfang des Jahres Lieferungen von Covid-Impfstoff ausfielen, welche die Kommission gemeinsam für alle Staaten bestellt hatte. Jetzt erklärt die 62-Jährige mit Genugtuung, dass die EU einer der Vorreiter bei der Impfquote sei - "allen Kritikern zum Trotz".

Doch in vielen armen Staaten, etwa in Afrika, ist die Impfquote weiterhin unglaublich niedrig. Das lässt bereits Forderungen laut werden, die Patente auf Corona-Impfstoffe aufzuheben - ein Ansatz, den die Kommission ablehnt. Von der Leyen verspricht in ihrer Rede stattdessen, dass die EU weitere 200 Millionen Dosen spenden werde.

50 Milliarden Euro für die Krisenvorsorge

Außerdem will die Kommission Europa besser auf künftige Pandemien vorbereiten - mit einer neuen Behörde namens "Hera". Sie orientiert sich am Beispiel der US-Medizinbehörde Barda. Das amerikanische Vorbild konnte beim Start der Pandemie rasch Milliarden Dollar investieren, um Pharmakonzernen bei der Suche nach Impfstoffen und dem Aufbau von Produktionskapazitäten zu helfen. Das war ein wichtiger Grund, wieso die Impfkampagne in den USA schneller anlief als in Europa. Von der Leyen fordert, bis 2027 die enorme Summe von 50 Milliarden Euro in derartige Krisenvorsorge zu investieren.

Kein Schnäppchen wird auch der Plan, die europäische Chipindustrie zu stärken. Der Kontinent war früher ein wichtiger Hersteller dieser Halbleiter, die in allen möglichen Geräten stecken. Doch inzwischen stammt weniger als jeder zehnte Chip weltweit aus der EU; Europa ist von Zulieferungen aus Asien abhängig. Weil die Produzenten dort nicht wie geplant liefern können, müssen Autokonzerne gerade ihre Fertigung drosseln. Um solche Abhängigkeiten zu mindern und die "technologische Souveränität" zu stärken, solle die EU "gemeinsam ein hochklassiges europäisches Chip-Ökosystem schaffen", schwurbelt von der Leyen. "Eine enorme Herausforderung", bei der ein eigenes Chip-Gesetz helfen soll, das die Kommission präsentieren will.

Ein wichtiges Thema der Rede sind auch die Lehren aus Afghanistan. Die EU musste mal wieder erkennen, militärisch komplett auf die Amerikaner angewiesen zu sein. Als Washington entschied, den Flughafen in Kabul nicht länger zu verteidigen, mussten auch die europäischen Partner ihre Evakuierungsflüge einstellen. Den Flughafen auf eigene Faust zu sichern, war nicht möglich. Manche Vertreter von EU und Regierungen fordern daher den Aufbau einer schnellen Einsatztruppe. Doch solche Appelle, eine schlagkräftige EU-Einheit aufzubauen, gibt es immer wieder - und sie verhallen folgenlos.

Die frühere Verteidigungsministerin von der Leyen will nun erst einmal die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten verbessern. Um einen besseren Überblick über Krisen zu bekommen, sollen die Länder und die Kommission ihre Informationen künftig in einem gemeinsamen Lage- und Analysezentrum bündeln, regt die CDU-Politikerin an. Zudem müsse stärker darauf geachtet werden, dass die Ausrüstung der nationalen Streitkräfte untereinander kompatibel ist. Unter französischer EU-Ratspräsidentschaft, also in der ersten Jahreshälfte 2022, soll es einen Sondergipfel geben, um europäische Verteidigungspolitik zu beraten.

Lob für Journalisten, aber keine Pressekonferenz

Auf Deutsch spricht sie über Rechtsstaatlichkeit. Die Kommission streitet seit Längerem mit den Regierungen in Polen und Ungarn, weil diese die Unabhängigkeit der Justiz aushöhlen. Vor einer Woche erst beantragte die Behörde Strafgelder gegen Polen beim Europäischen Gerichtshof. Von der Leyen sagt, bei solchen Konflikten setze sie zunächst immer auf Dialog. "Aber er ist kein Selbstzweck, er muss zu einem Ziel führen", ergänzt sie. Deshalb verfolge die Kommission hier einen "dualen Ansatz aus Dialog und entschlossenem Handeln", wie nun bei den Strafgeldern gesehen.

Gefährdet ist ihrer Ansicht nach auch die Medienfreiheit in der EU. "Journalistinnen und Journalisten werden angegriffen, einfach nur, weil sie ihre Arbeit machen. Einige werden bedroht und verprügelt, andere tragischerweise ermordet", sagt von der Leyen und erinnert an Daphne Caruana Galizia, Ján Kuciak und Peter de Vries. Diejenigen, die Transparenz schafften, müssten jedoch geschützt werden, sagt sie und kündigt an, dass die EU-Kommission deshalb ein Medienfreiheitsgesetz vorlegen werde. Das wird bei Journalisten gut ankommen, allerdings erschwert von der Leyen zugleich EU-Korrespondenten deren Arbeit: Denn dazu gehört es, Fragen und Nachfragen stellen zu können. Doch eine Pressekonferenz ist nach ihrer Rede nicht vorgesehen.

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