SZ: Terrorwarnung. Ist das der Initiationsritus für Hysterie? Brauchen wir neue Maßnahmen? Schon wieder ein Sicherheitspaket?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Wir brauchen eine nachhaltige Sicherheitspolitik. Besonnenheit und beherztes Organisieren und Zupacken auf Grundlage der bestehenden Gesetze ist das Gebot der Stunde. Die schwarz-gelbe Koalition hat sich darauf verständigt, dass die konsequente Anwendung geltenden Rechts, eine gute Ausstattung der Sicherheitsbehörden und die Beseitigung von Vollzugsdefiziten immer Vorrang haben vor der Erweiterung staatlicher Eingriffsbefugnisse.
SZ: Von Einigkeit in der Koalition sehe ich nichts. Der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl hat soeben in Richtung FDP gesagt, wer sich jetzt noch gegen die Vorratsdatenspeicherung wehre, habe "die Bedrohungslage nicht verstanden". Also Frau Justizministerin: Sie verstehen angeblich die Zeichen der Zeit nicht.
Leutheusser-Schnarrenberger: Auch der Innenminister warnt vor einer Instrumentalisierung der Situation. Ich warne eindringlich vor einem politischen Kosten-Nutzen-Denken im Zeichen des Terrors. Das schürt nur Ängste. Das weiß auch Herr Uhl. Die Verfassungsrichter sprechen in ihrem Urteil von einem "besonders schweren Eingriff in das Fernmeldegeheimnis", der Rückschlüsse bis in die Privatsphäre ermögliche. Wir müssen besonnen bleiben. Die Bundesrepublik hat funktionierende Sicherheitsbehörden, und ich unterstütze das besonnene Vorgehen angesichts der erhöhten Bedrohungslage. Eine eindimensionale Debatte über neue Eingriffsbefugnisse wird der Ernsthaftigkeit der Lage nicht gerecht. Dass mehr Überwachung automatisch zu mehr Sicherheit und Schutz der Bürger führt, ist noch nie bewiesen worden.
SZ: Bisher gab es viel Einvernehmen zwischen Ihrem FDP-geführten Justizministerium und dem CDU-geführten Innenministerium. Es gab kaum offenen Streit. Ist diese Zeit der Ruhe jetzt vorbei?
Leutheusser-Schnarrenberger: Wir haben im ersten Regierungsjahr der Illusion widerstanden, von dem Schutz der Freiheit zu reden und in Wirklichkeit den Abbau von Freiheitsrechten zu betreiben. Stattdessen machen wir Ernst mit einer Regierungspolitik, die die Grundrechte achtet und bewahrt und gleichzeitig innere Sicherheit gewährleistet. Das gehört zum Markenkern dieser Koalition.
SZ: Im ersten Jahr gab es ja auch keine Terrorwarnungen. Jetzt, nach der Terrorwarnung, beginnt wieder das übliche Spiel. Der große Koalitionspartner fordert neue Gesetze, der kleine warnt vor neuen Gesetzen. Der eine sagt Sicherheit, der andere sagt Freiheit. Es kreuzen sich die üblichen Klingen.
Leutheusser-Schnarrenberger: Das hoffe ich nicht. Erstmals seit nunmehr zwölf Jahren gibt es am Ende eines Regierungsjahres keine Verschärfung von Sicherheitsgesetzen. Seit Jahren wurde die Innen- und Rechtspolitik von einer beispiellosen Erosion der Grundrechte geprägt. Noch nie sind durch immer neue sogenannte Sicherheitsgesetze so viele Eingriffe in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen der Bürgerinnen und Bürger erfolgt wie in den letzten zwölf Jahren. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass nachhaltige Sicherheit anders aussieht. Und wir haben vernünftige Kompromisse in der Innen- und Rechtspolitik hinbekommen.
SZ: Wir haben kein Vorratsdatenspeicherungsgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang März das damalige Gesetz aufgehoben.
Leutheusser-Schnarrenberger: Weil es die Bürgerrechte stranguliert hat, weil es eine uferlose Datenspeicherung und einen schier unbegrenzten staatlichen Zugriff auf die gespeicherten Daten ermöglicht hat. Ich habe zu den Beschwerdeführern gezählt.
SZ: Das ist bekannt. Im Urteil aus Karlsruhe steht aber nicht, dass es überhaupt keine Vorratsdatenspeicherung geben darf. Dort werden Regeln für eine rechtsstaatliche Vorratsdatenspeicherung aufgestellt.
Leutheusser-Schnarrenberger: Weltweit wird Kriminalität ohne eine solche Vorratsdatenspeicherung bekämpft, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten.
SZ: Aha, Sie wollen überhaupt kein solches Gesetz.
Leutheusser-Schnarrenberger: Seit Verkündung des Bundesverfassungsgerichtsurteils ist allen Beteiligten klar, dass sich Deutschland am weiteren Vorgehen der Europäischen Union orientieren muss. Auf EU-Ebene ist aber ein Meinungswechsel im Gang. Die laufende Evaluierung ist mehr als eine Evaluierung, nämlich eine kritische Überprüfung der Richtlinie, auch an der EU-Grundrechtecharta. Das müssen wir abwarten.
SZ: Bis dahin leidet die Terrorbekämpfung an Datenmangel?
Leutheusser-Schnarrenberger: Die Vorratsdatenspeicherung für Internet-Daten war in Deutschland nur 14 Monate in Kraft. Die Verbindungsdaten, die jetzt den Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehen, entsprechen dem jahrzehntelang bewährten Sicherheitsniveau. Für Deutschland gilt: Zur Kriminalitätsbekämpfung sind auch ohne die pauschale und anlasslose Speicherung jeder Benutzung von Telefon, Handy, E-Mail und Internet Verbindungsdaten verfügbar.
SZ: Bis zur Änderung der EU-Richtlinie legen Sie nun die Hände in den Schoß?
Leutheusser-Schnarrenberger: Überhaupt nicht. Wir arbeiten an einer anlassbezogenen Nutzung von Verbindungsdaten. Das ist das "Quick-freeze"-Verfahren, das sogenannte Schockfrosten. Also ein Verfahren, mit dem Telekommunikations-Verkehrsdaten für Zwecke etwa der Strafverfolgung vorübergehend gesichert werden können. Dieses Verfahren wird ja erfolgreich praktiziert, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten und bald wohl in Kanada. Der Ablauf ist so: Durch eine Anordnung wird die routinemäßige Löschung der Daten unterbunden; die Daten werden "eingefroren". Sobald ein Beschluss vorliegt, ist dann die Nutzung der Daten erlaubt, sie werden wieder "aufgetaut" und der Strafverfolgungsbehörde ausgehändigt.