Süddeutsche Zeitung

Lehrerbewertungen:Urteilswut im Klassenzimmer

Mit der App "Lernsieg" sollten Kinder ihre Lehrkäfte schnell bewerten. Wem genau nützt das? Die schnelle, indirekte Feedback-Kultur ist das Gegenteil von echter Auseinandersetzung.

Kolumne von Karl-Markus Gauß

Zu den absonderlichen Episoden der deutschen Filmgeschichte gehören die sogenannten Paukerfilme der Sechzigerjahre. Vordergründig ging es darin um den Konflikt zwischen autoritären Lehrern und aufmüpfigen Schülern; die frechen Schüler revoltierten allerdings nicht gegen eine Pädagogik des Drills, in der der nazistische Ungeist fortwirkte, sondern kämpften um ihr Recht auf alberne Streiche und Lausbübereien, als gälte es die herrschende Schulordnung ausgerechnet mittels infantiler Übertretungen zu bestätigen. Und doch waren die biedersinnigen Paukerfilme unterschwellig mit jenem Aufbegehren verbunden, das man heute mit der Bewegung der 68er identifiziert, freilich als einer ihrer vielen Seitenarme, die hinaus in eine Gesellschaft reichten, in der die Anliegen der Studenten noch auf wütende Ablehnung stießen.

Ein großer Sprung: In Österreich und Deutschland ist vorigen Monat eine App online gegangen, die martialisch "Lernsieg" heißt. Sie soll das Missverhältnis ausgleichen, dass Schüler es zwar unentwegt mit Lehrern zu tun bekommen, die ihr Verhalten und ihre Leistungen benoten, sie selbst aber keine institutionalisierte Möglichkeit haben, auch ihre Sicht auf den Unterricht, das Können, die Persönlichkeit der Lehrer kundzutun. Ihren Unmut, sei er berechtigt oder nicht, können Schüler allenfalls als persönliche Einzelkämpfer äußern, indem sie sich aggressiv oder resigniert der Schule verweigern, deren Repräsentanten als ihre Feinde empfinden und sich damit oft selbst am meisten schaden.

Dass die Lehrerinnen und Lehrer ein Feedback bitter nötig haben, um zu sehen, wie ihre Arbeit von der anderen Seite wahrgenommen wird, weiß niemand besser als diese selbst, die einen Beruf ausüben, der ihnen vielerlei abverlangt und für den im Übrigen dasselbe wie für jeden anderen gilt: dass es nämlich viele gibt, die sich für ihn aus Neigung entschieden haben und ihn mit Hingabe ausüben; dass sich andere mit dem alltäglichen Dienst nach Vorschrift für ausreichend beschäftigt halten; und dass sich leider auch manche finden, die für ihre Aufgabe entweder schlichtweg ungeeignet sind oder ihre diesbezüglichen Talente irgendwann an die Routine eingebüßt haben.

Die App "Lernsieg" ging am 11. November ins Netz. Binnen weniger Stunden waren dort Abertausende per einfachem Klick abgegebene Benotungen zu finden, die die pädagogische Leistung der Lehrer landesweit nach dem Muster von Hotelbewertungen mit Sternen beurteilten. Die Kriterien, die auf einer Skala von einem bis zu fünf Sternen bemessen wurden, waren etwa Pünktlichkeit, Vorbereitung, Motivationsfähigkeit, Geduld, Fairness, lauter Dinge also, die für die fachliche und menschliche Qualifikation von Lehrern durchaus wichtig sind.

Der forsche Versuch, die Schülerschaft des Landes aufzurufen, ihre Lehrer anonym einer permanenten digitalen Beurteilung auszusetzen, stieß sogleich auf verständliche, mitunter aber auch auf bornierte Kritik. Denn natürlich wurde prompt moniert, dass es gut ausgebildeten Lehrpersonen einfach nicht zuzumuten wäre, von Heranwachsenden benotet zu werden, die zu benoten doch ihre ureigene Domäne zu bleiben habe. Und vorhersehbar wurde diese Kritik von den Betreibern und Nutzern der App mit dem Einwand vom Tisch, nein vom Tablet gewischt, mit dem auch die Verfechter der digitalen Überwachung unserer Gesellschaft ihr Ansinnen verteidigen: Wer nichts angestellt hat, braucht die Überwachung doch nicht zu fürchten! Die Benotung im Internet werde die Lehrerinnen bestätigen, die guten Unterricht leisten, und jenen die Sterne vorenthalten, die ihren Beruf verfehlt haben.

Woher die Daten für die App kamen und wer von ihr profitiert, ist bisher unklar

Wer das komplexe Verhältnis von Lehrenden und Lernenden ins System von Rankings zwängen möchte, hat allerdings nicht verstanden, was eine offene und hilfreiche Auseinandersetzung ausmacht. Der Konflikt wird vielmehr auf ein Feld verlagert, auf dem Schüler, die ihren Lehrern im Umgang mit digitalen Medien überlegen sind, Lehrern gegenüberstehen, die es nicht geschafft haben - und in der rasanten technologischen Veränderung unserer Kultur auch nicht schaffen konnten -, in ihnen die angebrachte Skepsis gegen die digitale Urteilswut zu wecken, die längst alle Sphären der Gesellschaft erfasst hat.

Kommt hinzu, dass Zweifel angebracht ist, wer diese App für welche Zwecke eigentlich erfunden hat und betreibt. Wie sollte es Benjamin Hadrigan, ein hochbegabter 18-Jähriger, der den Medien als Erfinder der App präsentiert wurde, zuwege gebracht haben, ohne Unterstützung die Daten von mehr als hunderttausend Lehrern und Lehrerinnen zusammenzutragen? Wie ist er an jene Investoren herangekommen, die sein Start-up-Unternehmen mit einer Summe jenseits von einer Million Euro finanzieren? Die bisher namenlos gebliebenen Investoren haben jedenfalls wissen lassen, dass es ihnen zwar vordringlich um die Optimierung unseres Schulsystems gehe, sie aber von dieser App mittelfristig Gewinne erwarten. Die Humanisierung der Schulen hat sich kommerziell zu rechnen. Auf allerlei Daten der Lehrer - in welcher Schule sie mit welchem Zuspruch der Schüler welche Fächer unterrichten - haben die Investoren bereits Zugriff; auf die der Schüler aber auch, denn wer seine Lehrer benoten will, bleibt zwar für diese anonym, muss bei der App aber seine Handynummer hinterlegen. Wofür er sich interessiert, was ihn stört und ihm gefällt, das hat er ihr ohnedies bereits von sich aus preisgegeben.

Der "Lernsieg" wurde nach vier Tagen wieder aus dem Netz genommen; nur auf Zeit, um die App zu verbessern und ihren jungen Erfinder vor dem Shitstorm zu schützen, dem er ausgerechnet von denen ausgesetzt wurde, die sich gerade noch über das digitale Mobbing der Lehrerschaft entrüsteten. Die Paukerfilme thematisierten die Unzufriedenheit an der autoritären Schule von damals, aber blieben geradezu erschreckend harmlos. Die App "Lernsieg" verspricht, einem realen Missstand im heutigen System "Schule" abzuhelfen, aber die Energie, mit der sie die Schule zum Aufmarschgebiet des Neoliberalismus machen will, ist keineswegs harmlos, sondern erschreckend.

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Quelle:
SZ vom 13.12.2019
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