Lena Gorelik wurde 1981 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, in eine jüdische Familie hineingeboren. Gemeinsam mit ihren Eltern wanderte sie 1992 nach Deutschland ein. Später absolvierte sie die Deutsche Journalistenschule sowie den Studiengang zu Osteuropastudien. Ihr Debütroman "Meine weißen Nächte" wurde von der Kritik gelobt. Zuletzt erschien der Roman "Die Listensammlerin". Gorelik lebt mit ihrer Familie in München.
Goreliks Vorfahren gehörten zu jenen Leningradern, die während der Belagerung in der Stadt ausharrten (hier ausführliche Informationen zur Blockade). Die Blockade der Stadt endete nach etwa 900 Tagen am 27. Januar 1944 - genau ein Jahr später befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Aus diesem Grund wird in Deutschland jedes Jahr an diesem Tag der Millionen meist jüdischen Opfer des Rassenwahns gedacht, die während der nationalsozialistischen Diktatur litten und ums Leben kamen.
SZ.de: Frau Gorelik, wie erfuhren Sie als Kind von der Belagerung Leningrads?
Lena Gorelik: Mir wurde davon erzählt, als Heldengeschichte von Menschen, die gekämpft haben, die gelitten, aber nicht aufgegeben haben. Meine Großmutter war die ganze Zeit in Leningrad und hat versucht, ihre Schwester durchzubringen. Mein Vater kam 1940 zur Welt, wurde aber später während der Belagerung evakuiert. Er erinnert sich nicht bewusst, aber die Notzeit wirkt trotzdem bis heute nach.
Inwiefern wirkt bei ihm die Geschichte nach?
Mein Vater hortet Essen. Der ganze Keller meiner Eltern ist voll, wir sind auf Jahre ausgerüstet. Und er isst Lebensmittel, deren Verfallsdatum abgelaufen ist. Mein Vater sagt in solchen Situationen: 'Ich bin ein Blockadekind.' Meine Großmutter erzählte Blockade-Geschichten, wenn ich nicht aufessen wollte. Dann hieß es: 'Wir hätten uns darüber gefreut.' Und uns wurde gezeigt, wie klein die Brotrationen waren, die die Leningrader während der Belagerung erhielten.
Um welche Mengen handelte es sich?
Das variierte, je nach Versorgungslage. Teilweise waren es 125 Gramm.
Das ist in etwa eine dickere Scheibe Brot.
Eine Scheibe Brot, die man nur über Lebensmittelmarken erhielt. Dazu gibt es eine Familiengeschichte: Die Schwester meiner Großmutter verlor einmal diese Marke, erzählte aber niemandem davon. Sie war eher bereit, den Hungertod zu sterben. Meine Großmutter fand es heraus und teilte ihre Ration.
Wie haben solche Geschichten Ihr Deutschlandbild geprägt?
Als Kind haben wir Krieg gespielt. Alle wollten natürlich zur Roten Armee gehören, die Deutschen waren "die Weißen". Wir haben damals "Hände hoch" und "Hitler tot" gerufen. Das waren auch die ersten Worte in deutscher Sprache, die ich gelernt habe. Als meine Eltern verkündeten, dass wir nach Deutschland auswandern, habe ich das aber nicht mit Krieg und Belagerung in Verbindung gesetzt. Sondern mit dem tollen Westen.
Wie lebendig ist die Belagerungszeit heute noch in Russland?
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind einige Denkmäler abgerissen worden. Doch in Sankt Petersburg steht, soweit ich weiß, noch alles. Dort lebt der Mythos. Wenn man in die Stadt hineinfährt wird man begrüßt von der "Heldenstadt Leningrad". Die Belagerung gehört zu Sankt Petersburgs Identität. Noch lebende Kriegsveteranen und Menschen, die damals in der Stadt ausharrten, werden verehrt.
Einer dieser ehemaligen Sowjetsoldaten, die Leningrad verteidigten, ist der Schriftsteller Daniil Granin, der heute im Bundestag spricht. Halten Sie die Verquickung von Belagerung und Holocaust-Gedenken sinnvoll?
Ja. Der Blick auf die Vergangenheit verlagert sich dadurch nicht, er weitet sich. Es ist richtig, dass auch dieser Teil der Geschichte erklärt und aufgearbeitet wird. Nur wenige Deutsche dürften tatsächlich wissen, was vor mehr als 70 Jahren in Leningrad passiert ist. Aber da waren doch auch eure Leute. Ist das nicht auch eure Geschichte?
Leningrad-Belagerung 1941-1944:Als die Menschen auf der Straße starben
Außen saßen die deutschen Soldaten, innen krepierten die russischen Zivilisten: Bilder von der Blockade von Leningrad, bei der im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende umkamen.
Nach wie vor leben frühere SS-Leute, die an der Judenvernichtung beteiligt waren, sowie ehemalige Wehrmachtssoldaten, die Leningrad belagert haben. Geht Ihnen das nahe?
Meine Generation kann sich da relativ weitgehend abkoppeln. Wenn ich manchmal sehr alte Menschen sehe, frage ich mich schon, was die vor 70 Jahren gemacht haben. Und da ist es in meinem Fall egal, ob jemand meine Familie ausgehungert oder Menschen nach Auschwitz geschickt hat.
Bald sind auch die verbleibenden Zeitzeugen nicht mehr auf der Welt und der Zweite Weltkrieg rückt in der öffentlichen Wahrnehmung so weit weg, wie für uns heute der Erste Weltkrieg. Haben Sie eine Idee, wie man die Erinnerung für nachkommende Generationen würdig am Leben hält?
Das ist schwierig, eine Patentlösung kann ich nicht nennen. Aber die Holzhammermethode, wie ich sie in meiner Schulzeit in Baden-Württemberg erlebt habe, ist auf jeden Fall kontraproduktiv. Da haben wir immer und immer wieder die NS-Zeit durchgekaut. Das vermittelte manchen den Eindruck, an irgendetwas Schuld zu haben.
Wie kann die Information weitergegeben werden ohne das Gefühl, Schuld zu haben?
Der emotionale Druck muss rausgenommen werden. Wer Druck empfindet, tut sich schwer mit Empathie. Wem vorgeschrieben wird, Empathie zu empfinden, hat Druck. Es muss die Möglichkeit geben, die Fakten für sich wirken zu lassen. Wir sollten Diktatur, Krieg und Holocaust historisch besser einbetten. Weder die deutsch-russische Geschichte, noch die Geschichte der Juden in Deutschland sollte auf die Nazi-Zeit reduziert werden.
Frau Gorelik, wie werden Sie Ihren kleinen Kindern erklären, was passiert ist?
Ich werde Ihnen von den historischen Fakten erzählen. Dass diese Zeit grauenhaft war, aber dass es auch ein Davor gab und ein Danach gibt. Auf jeden Fall werde ich Ihnen beibringen: jüdisch sein bedeutet nicht, Opfer zu sein.
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