Lehrermangel:Das Lehren der anderen

Lehrermangel: Sind Schülerinnen und Schüler in Deutschland besser betreut als in anderen europäischen Ländern - oder schlechter?

Sind Schülerinnen und Schüler in Deutschland besser betreut als in anderen europäischen Ländern - oder schlechter?

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Nicht nur Deutschland gehen die Lehrkräfte aus. Die europäischen Nachbarn setzen auf Aushilfskräfte ohne Abschluss, finanzielle Anreize - und auf Wertschätzung. Ein Vergleich.

Von Marc Beise, Cathrin Kahlweit, Kathrin Müller-Lancé, Isabel Pfaff, Alex Rühle und Lilith Volkert

Deutschland: Gewachsene Belastung

Deutschland hat ein Problem mit seinen Lehrerinnen und Lehrern: Es gibt schlicht und einfach zu wenige. Die Bundesländer haben sich jahrelang nicht um ausreichend Nachwuchs gekümmert, dazu kommen demografische Gründe. Außerdem brechen viele Lehramtsstudenten das Studium ab. Dabei verdienen Lehrkräfte gut. Je nach Schulart und Bundesland werden Einstiegsgehälter zwischen 3600 und 4700 Euro gezahlt. Etwa drei Viertel der Lehrer sind verbeamtet und müssen nur einen Teil der Sozialabgaben zahlen, ihnen bleibt vergleichsweise mehr Netto vom Brutto.

Der Beruf gilt als sicher und familienfreundlich, vielen jungen Menschen ist er inzwischen aber zu unflexibel. Die Belastung durch zusätzliche Verwaltungsaufgaben ist in den vergangenen Jahren gewachsen, auch das Ansehen könnte besser sein. Oft wird gespottet, Lehrkräfte hätten "vormittags recht und nachmittags frei".

Bisher werden die Lücken vor allem mit Quereinsteigern gefüllt, die ein Studium, aber keine pädagogische Ausbildung absolviert haben. Das wird auf die Dauer nicht reichen. Ein wissenschaftliches Beratergremium hat nun vorgeschlagen, dass Lehrkräfte mehr und länger arbeiten sollen. Bisher müssen sie 24 bis 28 Unterrichtsstunden pro Woche halten, dazu kommen Vorbereitung und Korrekturen. Außerdem wird empfohlen, die Teilzeitregelungen einzuschränken. Nur gut die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer arbeitet in Vollzeit. Ihre Teilzeitquote ist nicht nur deutlich höher als im Rest der Gesellschaft, sondern auch im Vergleich mit Lehrkräften in anderen europäischen Ländern, argumentiert die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK). Lilith Volkert

Schweiz: Lehrer ohne Abitur

In der Schweiz gibt es einen ähnlich großen Lehrermangel wie in Deutschland. Das Bundesamt für Statistik geht davon aus, dass bis 2031 etwa 11 000 Lehrkräfte zu wenig ausgebildet werden. Einige Kantone haben bereits im vergangenen Jahr zu drastischen Mitteln gegriffen: In Zürich, dem bevölkerungsreichsten Kanton, durften die Gemeinden 2022 zum ersten Mal Laien einstellen - zwar nur befristet für ein Jahr, dafür brauchten diese Lehrkräfte nicht einmal Abitur. In Bern, wo die Not ähnlich groß ist, haben derzeit rund zehn Prozent der Volksschullehrer kein Lehrdiplom. Dort dürfen Quereinsteiger schon seit Jahren ohne größere Hürden unterrichten - egal, ob sie sich nebenbei ausbilden lassen oder nicht.

Dabei gilt der Lehrberuf in der Schweiz als attraktiv, auch wenn Lehrkräfte dort keine Beamten sind: Die Löhne sind vergleichsweise hoch, je nach Kanton und Schulstufe verdienen Lehrerinnen und Lehrer im Durchschnitt zwischen 78 000 (Primarstufe) und 155 000 Franken (Gymnasium) im Jahr. Auch Teilzeit ist möglich und wird rege genutzt: Knapp 30 Prozent der Schweizer Lehrpersonen arbeiten mit einem Pensum von weniger als 50 Prozent, etwa 40 Prozent arbeiten zwischen 50 und 90 Prozent. Isabel Pfaff

Frankreich: Ab in die Provinz

"Pénurie", das französische Wort für "Mangel", hört man nicht nur, wenn Tankstellen streikbedingt der Sprit ausgeht, sondern auch im Zusammenhang mit Lehrkräften. Vor Beginn des vergangenen Schuljahres waren in Frankreich etwa 4000 Stellen offen. An den weiterführenden Schulen sind in diesem Schuljahr nach Angaben des Bildungsministers etwa acht Prozent der Lehrer und Lehrerinnen Aushilfskräfte. Städte wie Toulouse und Versailles setzen auf job dating, um Personal zu finden. Der französische Rechnungshof plädierte vor Kurzem dafür, die Ausbildung und Auswahl von Lehrerinnen und Lehrern zu überarbeiten.

Dass der Lehrberuf in Frankreich nur wenige junge Menschen anzieht, ist angesichts der Arbeitsbedingungen nicht erstaunlich. Lehrkräfte verdienen in Frankreich wesentlich schlechter als im Durchschnitt der OECD-Länder. Berufsanfänger bekommen nach Angaben des Bildungsministeriums etwa 1900 Euro netto, nach 20 Jahren liegt das Grundgehalt bei etwa 2500 Euro netto. Bildungsminister Pap Ndiaye hat versprochen, das Gehalt für Berufsanfänger zu erhöhen.

Was viele auch abschreckt: Wer in Frankreich auf Lehramt studiert hat, kann danach an Schulen im ganzen Land geschickt werden. Berufsanfänger landen oft in unbeliebten Bezirken, in denen eigentlich erfahrene Lehrkräfte besser eingesetzt wären. Weil Lehrerinnen und Lehrer in Frankreich nur ein Fach unterrichten, müssen einige an mehreren Schulen arbeiten. Das führt bei vielen zu Frust. Kathrin Müller-Lancé

Ungarn: Vom Staat bevormundet

Seit einem Jahr demonstrieren in Ungarn Lehrer und Lehrerinnen gegen die Bildungspolitik des Staates, für mehr Gehalt, für weniger politische Einmischung. Bisher tun sie das vergeblich; die Fronten haben sich vielmehr verhärtet, der Staat antwortet mit Entlassungen. Alle paar Wochen gibt es Großdemonstrationen von Pädagogen, die bisweilen in Budapest sogar den Verkehr im Zentrum lahmlegen. Viele Schülerinnen, Schüler und Eltern haben sich angeschlossen, weil auch sie die Zu- und Umstände, unter denen in Ungarn unterrichtet und gelernt wird, für unzumutbar halten.

Lehrermangel: Tausende Menschen protestieren im Herbst 2022 in Budapest für bessere Bildung und mehr Geld für Lehrer.

Tausende Menschen protestieren im Herbst 2022 in Budapest für bessere Bildung und mehr Geld für Lehrer.

(Foto: Peter Kohalmi/AFP)

Denn die Zahl der Lehrer ist - unterem wegen mangelnder Attraktivität des Berufs, Arbeitsüberlastung und Überalterung -, drastisch gesunken. Laut Gewerkschaftsangaben sind derzeit 16 000 Stellen in dem Neun-Millionen-Einwohnerland nicht besetzt. Fast die Hälfte der Pädagogen in Ungarn ist über 50 Jahre alt; viele Jüngere steigen aus Frust aus. Das liegt vor allem, aber nicht nur, an den Gehältern: mit fünfhundert Euro in den ersten zehn Berufsjahren und knapp tausend Euro am Laufbahnende bei einer Unterrichtsverpflichtung von 24 Stunden liegt Ungarn im europaweiten Vergleich weit hinten.

Seit Amtsantritt der Regierung von Viktor Orbán ist ein radikaler Verlust an schulischer Autonomie hinzugekommen. Nation, Familie und Heimatschutz wurden zu zentralen Erziehungszielen deklariert. Ein staatliches Institut gibt nicht nur Lehrinhalte bis ins Detail vor, sondern bestimmt im ganzen Land über Verwaltung, Postenbesetzungen, ja sogar Materialbestellungen.

Das Bildungsministerium wurde abgeschafft, die Zuständigkeit für Schulen liegt jetzt im Innenministerium. Bislang verweigert die Regierung jegliche Lockerung der rigiden Vorgaben, aber auch jede Gehaltserhöhung. Ihr Argument: Solange Brüssel Ungarn Gelder vorenthalte, sei auch für die Lehrer kein Geld da. Die nächste Großdemonstration ist für den 14. März, den Vorabend des Nationalfeiertags, vorgesehen. Cathrin Kahlweit

Finnland: Wertgeschätzt und eigenständig

Seit das Land im Jahr 2000 Weltklassenerster im Pisa-Ranking wurde, ist eine regelrechte Betreuungsindustrie für pädagogische Reisegruppen aus aller Herren Länder entstanden. Diese können sich nicht nur bei der Unterrichtgestaltung und der Architektur von Schulgebäuden etwas abschauen, sondern auch beim Umgang mit dem Lehrpersonal.

Der Beruf erfreut sich höchster Wertschätzung, Lehrerinnen und Lehrer haben hier ein Ansehen wie in anderen Ländern Ärztinnen oder Anwälte. Die Schulleitungen können über ihr Budget autonom verfügen und so die Ausrichtung ihrer Schulen sehr stark mitbestimmen. Die Lehrer haben ebenfalls große Gestaltungsräume, freie Lehrmittelwahl und können ihre Schwerpunkte selbst wählen. Für jeden Studienplatz gibt es rund zehn Bewerberinnen und Bewerber. Das heißt, zum Studium werden nur die Besten und Motiviertesten zugelassen - was dann wiederum dem Image des Berufs zugutekommt.

Allerdings gab es seit 2010 kontinuierlich Einsparungen im Bildungshaushalt, von sieben auf etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts - in Deutschland sind es 4,6 Prozent. Trotzdem schnitt Finnland auch im Pisatest 2018 immer noch weit besser ab als Deutschland. In Europa haben nur die estnischen Schüler bessere Resultate. Alex Rühle

Italien: Schlecht bezahlt und bedroht

"Ich werde immer auf der Seite der angegriffenen Lehrer stehen", versprach der italienische Bildungsminister Giuseppe Valditara kürzlich. Seit eine Lehrerin in Venetien von einem Schüler im Unterricht mit einer Luftdruckpistole beschossen wurde und ein Video davon im Netz kursierte, zieht die Debatte über Gewalt in Schulen wieder an - und verdrängt die viel größere Frage, was die Politik sich einfallen lässt, um den Pädagogen die Wertschätzung auch tatsächlich zu geben, die in Sonntagsreden oft erwähnt wird.

Es ist in Italien nicht anders als in anderen Ländern - und schlimmer: Es gibt immer Pädagogen aus Leidenschaft, aber der Beruf wird zunehmend unattraktiv. Italien ist eines jener europäischen Länder, die für die Schule am wenigsten Geld ausgeben. Dafür hat man im Schnitt die ältesten Lehrer, und die Jungen haben viele Probleme, eine Festanstellung zu bekommen. Neues Personal zu akquirieren, fällt auch deshalb schwer, weil italienische Lehrkräfte schlecht verdienen. Die Einstiegsgehälter in der Sekundarstufe I liegen brutto bei 25 000 Euro im Jahr. Schlimmer noch: Auch im landesinternen Vergleich schneiden die Lehrer schlecht ab. Sie verdienen, grob gerechnet, ein Drittel weniger als andere Akademiker in Italien.

Bildungsminister Valditara von der rechtspopulistischen Lega hat deshalb jüngst vorgeschlagen, die Gehälter des Lehrpersonals an die Lebensunterhaltskosten der entsprechenden Region anzupassen. Das sorgt für heftig Ärger: Die frühere Ministerin für Süditalien Mara Carfagna etwa ist strikt dagegen. Im günstigeren Süden müsse man schließlich die indirekten Kosten wegen schlechterer Dienstleistungen tragen, argumentiert sie. Auch die Gewerkschaft der Schulleiter findet den Vorschlag absurd, das Land dürfe nicht gespalten werden. Jetzt soll sich das Parlament in Rom mit dem Thema beschäftigen. Passieren wird vermutlich erst mal: nichts. Marc Beise

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