Geißlers Fazit zu Stuttgart 21:Kraft des Zorns

Stuttgart 21 vs. "Oben bleiben!": Vielen wird Heiner Geißler als Schlichter in der Auseinandersetzung um das umstrittene Infrastrukturprojekt in Erinnerung bleiben. Nachdem der Konflikt im Herbst 2010 eskaliert war, wurde Geißler als Schlichter berufen, am 29. Juli 2011 legte er das Kompromisspapier "Frieden in Stuttgart" vor. Schlussendlich setzten sich am 27. November die Befürworter von Stuttgart 21 in einer Volksabstimmung gegen die Kritiker durch. In der Süddeutschen Zeitung zog Geißler kurz darauf ein Fazit.

Von Heiner Geißler

Vier Tage nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21 ist für bestimmte Kommentatoren klar, wer gewonnen hat: nicht die Idee eines modernen, mitten in der Stadt tiefer gelegten Durchgangsbahnhofs, noch nicht einmal die Deutsche Bahn, obwohl sie an erster Stelle genannt werden müsste. Nein, so deren Meinung, gewonnen hätten alle guten Deutschen weit über Baden-Württemberg hinaus: die staatstragenden, leistungsfähigen, wirtschaftlich denkenden Menschen, die ordnungsliebenden, auf das geltende Recht den Behörden und den Verwaltungsgerichten vertrauenden Zeitgenossen, die die repräsentative Demokratie als völlig ausreichende Vertretung des Volkswillens akzeptierten, sich nicht anstecken ließen von antikapitalistischen Parolen und der Ignoranz der Destruktivisten.

Stuttgart 21 - Kundgebung

Die Proteste haben Stuttgart 21 nicht verhindern können - aber sie haben im Land etwas bewegt.

(Foto: dpa)

Und so wird er an den Pranger gestellt: der nihilistische Blockierer und Baumschützer, der aggressive Besitzstandswahrer und Fortschrittsbremser, der frustrierte Veganer und Feierabendrevoluzzer, eben der buhende, schreiende, hassende "Wutbürger". Er soll der große Verlierer sein.

Aber man könnte auch ins Träumen kommen und sich zurückversetzen ins Jahr 1995. Vier Leute - ein Ministerpräsident, ein Bundesverkehrsminister, der Chef der Deutschen Bahn, ein Oberbürgermeister - fliegen im Hubschrauber über das 120 Hektar große, von Bad Cannstatt bis Stuttgart-Mitte reichende Gleisvorfeld des Haupt- und Sackbahnhofs und fassen einen kühnen und genialen Plan. Um die Gleise verschwinden zu lassen und Stuttgart in der Mitte neu zu erfinden, wird der Bahnhof um 90 Grad gedreht, acht Meter tiefer gelegt und in einen Durchgangsbahnhof in der Mitte einer ICE-Schnellstrecke Mannheim-Ulm-München inklusive Stuttgarter Flughafen verwandelt.

Das Konzept wird der Öffentlichkeit vorgestellt. Es beginnt eine öffentliche Diskussion mit einer völlig neuen Form der Bürgerbeteiligung, einem gleichberechtigten Forum aus Projektbefürwortern und Projektgegnern, Ministerpräsident und Bahn-Chef an einem Tisch mit Grünen und Vertretern der Zivilgesellschaft mit totaler Transparenz an allen Sitzungstagen, übertragen vom Fernsehen, alle Positionen nachzuverfolgen im Internet. Es geht um Alternativen, zum Beispiel um einen Kombi-Bahnhof wie in Zürich oder die Trassierung durch das Fils- und Neckartal, um die Offenlegung der Kosten, begleitet von Informations- und Diskussionsveranstaltungen im ganzen Land und empfehlenden Voten der Parlamente.

Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei

Dann erfolgt eine Volksabstimmung. Der Bahnhof, der eine Mehrheit bekommen hat, wird gebaut. Wegen der vorausgegangenen ausführlichen Information und der demokratischen Entscheidung des Volkes gibt es keine wesentlichen Proteste und Einsprüche mehr, der Bahnhof wird zehn Jahre später im Jahre 2008 eingeweiht und in Betrieb genommen. Nach diesem Verfahren haben die Schweizer den Gotthard-Tunnel gebaut. So hätte es auch in Stuttgart kommen können. Leider ist dies nur ein Traum. Real war nur der geniale Plan 1995. Aber in Stuttgart ist es halt so gelaufen, wie es in Deutschland funktioniert: elitäre politische und ökonomische Entscheidungen, Großdemonstrationen und Konfrontationen mit der Polizei, mehr als hundert Verletzte, zwei von ihnen Schwerverletzte, von denen einer erblindete.

Befreiung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit

Im September 2010 wurde mit einer Fachschlichtung, einem umfassenden Faktencheck - wie im Traum geschildert - etwas nachgeholt, was 15 Jahre früher hätte stattfinden sollen. Dieser Faktencheck schuf vor allem die informative Voraussetzung für die Volksabstimmung vor vier Tagen. Die Protestbewegung hat die Schlichtung, die Volksabstimmung und das neue Verfahren erzwungen. Der sogenannte Wutbürger entpuppte sich in Wirklichkeit als der moderne Aufklärer.

Durch Befreiung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit machten sich diese Menschen fähig zum selbständigen Denken und der Bildung eines eigenen Urteils, unabhängig von Behörden und formalen Parlamentsentscheidungen. Vor dem Faktencheck waren nur 25 Prozent der Bevölkerung für den neuen Bahnhof und 60 Prozent dagegen. Nach der Schlichtung hatte sich das Verhältnis umgekehrt, entsprach also dem, was bei der Volksabstimmung herausgekommen ist.

Gewonnen hat bei dieser Volksabstimmung vor allem die Einsicht, dass es mit dem bisherigen Prozedere in Deutschland so nicht weitergehen kann. Im vorhandenen Baurecht leistet sich Deutschland ein hochbürokratisches Verfahren mit vielen Doppel- und Dreifachprüfungen, unzumutbarem Zeitaufwand und kostspieligen Mehrfachgutachten. Im europäischen Vergleich rangiert Deutschland in puncto Bürgernähe und Öffentlichkeitsbeteiligung auf den hinteren Plätzen. In keinem anderen EU-Staat sind die Ausschlussregeln so streng: Wer in Deutschland seine Bedenken nicht innerhalb kurzer Frist vorbringt, ist damit für immer ausgeschlossen. In den Planfeststellungsverfahren gibt es keine Mitsprache, sondern nur Bescheide von oben.

Deutschland braucht eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch eine Verstärkung der unmittelbaren Demokratie sowie eine grundlegende Reform des öffentlichen Planungs- und Baurechts. Die Behauptung, bei einer Verstärkung der unmittelbaren Bürgerbeteiligung sei die Realisierung von Großprojekten nicht mehr gewährleistet, ist falsch. Eine Fortsetzung der bisherigen obrigkeitlichen Verfahren, verbunden mit dem Ausschluss echter bürgerschaftlicher Mitwirkungsrechte, führt, wie viele Vorgänge der letzten Jahre beweisen, zu heftigen Protesten und Auseinandersetzungen, zu erheblichen politischen Verwicklungen und jahrelanger Lähmung der Entscheidungsprozesse. In Stuttgart dauert das Verfahren inzwischen 17 Jahre, und mit dem Bau ist noch nicht einmal richtig begonnen worden.

In einer Zeit der Mediendemokratie mit Internet, Facebook, Blogs, einer Billion Webseiten und der Organisation von Zehntausenden Menschen per Mausklick kann die Demokratie nicht mehr so funktionieren wie im vergangenen Jahrhundert. Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei, auch Parlamentsbeschlüsse werden hinterfragt, vor allem, wenn es Jahre dauert, bis sie realisiert werden. Gleichzeitig wird eine zwingende verfassungsrechtliche Voraussetzung erfüllt. Im Grundgesetz heißt es: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, sie wird durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Bisher legitimierte sich unsere Demokratie durch Wahlen. Durch Abstimmungen? Fehlanzeige. Das wird sich in der Zukunft ändern.

Heiner Geißler, CDU-Mitglied, war Schlichter in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21.

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