Interview am Morgen: Mobile Zahnärztin:"Ich bin da, vom Roller bis zum Rollator"

Lesezeit: 3 Min.

Verpflichtung, für alle da zu sein: Älterer Mensch beim Zahnarzt (Symbolbild) (Foto: imago stock&people)

Zahnärztin Kerstin Finger fährt in der Uckermark über Land, um Patienten zu behandeln. Denn viele Ältere schaffen es nicht mehr in ihre Praxis - weil sie pflegebedürftig sind oder weil es keinen Bus mehr gibt.

Interview von Stefan Braun, Berlin

Ob in West oder Ost, in der Stadt oder auf dem Land - die Bundesregierung legt an diesem Mittwoch einen Plan vor, wie sie in allen Regionen Deutschlands gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen will. Welche Schwierigkeiten es da gibt, zeigt sich unter anderem bei der ärztlichen Versorgung auf dem Land. Kerstin Finger, 59, ist Zahnärztin in Templin in der Uckermark. Immer dienstags macht sie Hausbesuche.

SZ: Sie fahren als Zahnärztin übers Land. Warum das?

Kerstin Finger: Ich bin seit 35 Jahren mit Leib und Seele Landzahnärztin. Da haben sie die ganze Familie im Blick; sie reden nicht nur über die Kinder, sondern auch über Oma und Opa. Und irgendwann wurde mir bewusst, dass viele Ältere nicht mehr in die Praxis kamen, weil sie nicht mehr kommen konnten. Weil sie pflegebedürftig sind, weil sie nicht gehen können, weil es keinen Bus mehr gibt. Da ist in mir der Gedanke gewachsen.

Machen Sie das für alle?

Nein. Nur für die, die wirklich große Schwierigkeiten haben, zu mir zu kommen. Ich fahre ja nicht wie ein Bäckerwagen übers Land. Das ist keine komplett ausgestattete mobile Praxis. Ich habe meine Geräte dabei, trage sie rein, baue sie auf, am Bett oder in der Küche oder sonst wo, behandle, und trage sie wieder raus ins Auto. Der Traum wäre ein großer Medi-Bus, mit dem ich die Leute ganz organisiert überall erreichen kann.

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Wie stark reagieren sie darauf, dass der öffentliche Nahverkehr schwindet, die Zahl der Ärzte sinkt, dass die Versorgung generell abnimmt?

Das tue ich natürlich. Wir sind über viele Jahre geschrumpft; außerdem sind wir eh immer dünn besiedelt gewesen. Dazu wurde der öffentliche Nahverkehr abgebaut. Und was noch extremer ist: Dieser wurde an die Schulzeiten angepasst. Das heißt: In Ferienzeiten wie jetzt fahren bestimmte Busse gar nicht mehr. Nehmen sie den Ort, wo unsere Kanzlerin ihren Ferienbungalow hat. Wer da wohnt, geht zwei Kilometer bis zur Bushaltestelle. In den Ferien fährt da überhaupt nur ein-, zweimal am Tag ein Bus. Und wenn es Patienten zu einer bestimmten Zeit in die Sprechstunde schaffen, haben sie wahrscheinlich Schwierigkeiten, am gleichen Tag wieder nach Hause zu kommen.

Werden Sie mit dem, was Sie machen, belächelt oder bejubelt?

Ich bekomme sehr viel Post von Betroffenen und Angehörigen, die voller Dankbarkeit sind. Auf der anderen Seite aber haben meine eigenen Kollegen, als ich damit anfing, misstrauisch Konkurrenz gewittert. Die wussten genau, dass sie sich eigentlich selbst so etwas überlegen müssten.

Und warum machen die das nicht?

Es ist einfach nichts, womit sie reich werden. Es ist etwas, wo man bewusst sagen muss: Ich fühle mich nicht nur denen verpflichtet, die noch zu mir kommen können. Also die Gesunden, Schönen und Reichen. Ich kümmere mich auch um die Menschen, die das alles nicht sind. Ich bin Kassenärztin, nicht die Mutter Theresa. Ich sehe einfach nur die Verpflichtung, für alle da zu sein. Ich kann keine Auswahl treffen. Ich bin da, vom Roller bis zum Rollator.

Stecken Sie andere an?

Ja, ich spüre, dass Physiotherapeuten nachdenken, Ergotherapeuten und andere. Gerade aus dem medizinischen Bereich überlegen sich immer mehr Menschen, wie man es umdrehen kann für Menschen, die Bedarf haben, aber nicht mehr mobil sind. In den Städten ist das einfacher, auf dem Land kommt es immer stärker.

Es ist viel die Rede davon, dass Menschen in bestimmten Regionen Deutschlands abgehängt seien. Jedenfalls das Gefühl hätten. Erleben Sie das auch so?

Noch nicht. Ja, es ist schwieriger, hier zu leben. Vor allem ist es schwieriger, hier alt zu werden, weil viele Hilfsmittel und hochspezialisierte medizinische Geräte nicht in der Nähe sind. Trotzdem: Noch ist die Versorgung okay. Aber in fünf Jahren weiß ich ehrlich gesagt nicht, wie das werden soll. Viele werden dann aufhören, werden zu alt sein, und ich sehe nicht, wie das Problem gelöst werden könnte.

"Ich bin Kassenärztin, nicht die Mutter Theresa", sagt Kerstin Finger. Patienten, die nicht mehr in ihre Praxis kommen können, sieht sie sich trotzdem verpflichtet. (Foto: privat)

Das Gefühl des Abgehängt-Seins - ist da auch DDR-Nostalgie im Spiel?

Das spielt hier keine Rolle. Es ist ganz einfach: Die Menschen hier wie anderswo wollen in einer Krisensituation schlicht und einfach das Gefühl haben, dass es immer eine Lösungsmöglichkeit für sie gibt. Und wenn sie das nicht mehr haben, fühlen sie sich ausgeliefert. Das ist das Problem.

Ärzte sind wichtig, Polizisten, Schulen und Lebensmittelläden sind es auch. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten - wie sähe der aus?

Dass man weg kommt von der Zentralisierung. Dass man wieder ans Dorf denkt. Auf das Dorf setzt. Schulen, Supermärkte, auch Arztpraxen sind an sehr vielen Stellen zentralisiert. In den Städten haben sie dann fünfzehn oder noch mehr davon, während die Tante-Emma-Läden eingehen. Und wenn sie Glück haben, kommt der Bäcker oder Fleischer einmal die Woche rum. Bei den Schulen ist es genauso.

Und was hieße das?

Ich würde mir wünschen, dass man die jüngeren Schüler wieder im Dorf lässt. Dass man sie nicht in der zweiten und dritten Klasse schon stundenlang durch die im Winter kalte Uckermark karrt. Wenn man für sie wieder Dorfschulen schafft, dann fände auch alles andere wieder im Dorf statt: Kommunikation, Hilfe, gemeinsame Feste, soziales Leben. Das wird getötet, wenn Sie nur auf den ökonomischen Nutzen gucken, nach dem Motto: Wir brauchen einen Supermarkt auf 100 000 Leute, also machen wir ihn da, wo es für den Markt am günstigsten ist. Wir haben wichtigste Grundversorgungsmodelle ökonomisiert und kapitalisiert. Aber das geht nun mal nur bedingt.

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