Süddeutsche Zeitung

Lebensmittel:Hauptsache Vitamine

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Mit einem Fitness-Programm von Edmund Stoiber wollen EU-Parlamentarier den Verbraucherschutz kippen.

Von Jan Heidtmann

Es war eine Beerdigung dritter Klasse. Unter Tagesordnungspunkt 52 stimmten die Abgeordneten des EU-Parlaments am Dienstag gegen eine Verordnung, die eigentlich angelegt war, die Menschen zu schützen. Ohne Debatte, ohne Aussprache, mit 402 zu 285 Stimmen. Im Kern geht es in dieser Verordnung darum, wie ungesund ein Lebensmittel sein darf, wenn es von der Ernährungsindustrie als gesund deklariert wird.

Nach dem Willen der Mehrheit der EU-Parlamentarier ist es nun so: Egal, ob zuckerschwerer Joghurt oder fetttriefende Fleischwurst - sind Vitamine zugesetzt, darf der Hersteller auch damit angeben. "Enthält wichtige Vitamine", "gut versorgt in den Tag", heißt es dann auf den Verpackungen. Verbraucherschutzorganisationen sehen darin seit jeher eine Irreführung der Käufer. Die Süßwarenproduzenten könnten sich dadurch "gesund werben", sagt Oliver Huizinga von Foodwatch. "Ein Cheeseburger oder eine zuckerhaltige Limonade bekommt so den gleichen Stellenwert wie Gemüse." Für die Lebensmittelindustrie ist der Etikettenschwindel ein Erfolg, die Vitamine befeuern das Geschäft.

Die Hoffnung der Verbraucherschützer ruhte auf einer Verordnung der EU-Kommission von 2006. Dort sollte festgelegt werden, bis zu welcher Grenze von Fett, Zucker oder Salz ein Produkt trotz zugesetzter Vitamine als gesund bezeichnet werden darf. Bislang konnte sich die EU-Kommission nicht auf diese sogenannten Nährwertprofile einigen; weitere Versuche will das EU-Parlament nun mit ihrer Resolution stoppen.

Berichterstatterin und damit Wortführerin in dieser Sache ist die Europaabgeordnete der CDU, Renate Sommer. Sie hatte sich schon gegen die "Lebensmittelampel" gewehrt, eine klare Kennzeichnung von Zucker- oder Fettgehalt in Rot, Gelb und Grün. Die Vitaminangaben seien "keine Irreführung", sagt Sommer. "Wenn die Unternehmen das nicht mehr bewerben dürfen, dann entwickeln sie auch keine Lebensmittel mehr." Vor allem aber seien die Nährwertprofile jahrelang nicht umgesetzt worden, "weil sie offenbar nicht umsetzbar sind. Es ist ein theoretisches Modell". Dagegen spricht, dass es solche Obergrenzen längst gibt. Sie stammen von der World Health Organization (WHO) und bestimmen für unterschiedliche Lebensmittel genau, ab wann sie für Kinder schädlich werden. Dies seien keine wissenschaftlichen, "das sind politische Grenzwerte", meint Sommer.

Überraschend ist da nur, auf welchem Wege die EU-Parlamentarier die Nährwertprofile entsorgen wollen - ausgerechnet der frühere CSU-Chef Edmund Stoiber steht Pate. Sieben Jahre lang hat er im Auftrag der EU deren Bürokratie durchforstet, am Ende stand das REFIT-Programm. Damit sollen Gesetze und Gesetzesvorschläge der EU auf ihren Sinn überprüft werden. Dass diese ja sinnvolle Überlegung auch zugunsten der Industrie instrumentalisiert werden kann, kommentierte der Vorsitzende des DGB, Reiner Hoffmann, kürzlich so: "Hinter dem biedermännisch daherkommenden Programm zum Abbau von Bürokratie verbirgt sich ein groß angelegtes Deregulierungsprogramm."

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Quelle:
SZ vom 13.04.2016
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