Süddeutsche Zeitung

Lebensleistungsrente der großen Koalition:Himmelschreiende Ungerechtigkeit

Die große Koalition will Altersarmut verhindern, mit Riester-Verträgen, Lebensleistungsrente und Anreizen für eine Privatversicherung. Doch das Kuddelmuddel in der Sozialversicherung ist ein einziges Verwirrspiel - und benachteiligt hart arbeitende Beitragszahler.

Ein Gastbeitrag von Norbert Blüm

Eine "Lebensleistungsrente" soll Altersarmut verhindern helfen, heißt es im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Doch was unter diesem Begriff bisher diskutiert wurde, erweist sich als konfuses Rentenkuddelmuddel. Versicherung und Fürsorge sind zwei Paar Schuhe, und wer sie verwechselt, wird sozialpolitisch bald ins Stolpern kommen. Eine Versicherung ist auf Gegenseitigkeit aufgebaut, die Fürsorge auf Hilfe. Die Rentenversicherung folgt dem Prinzip Leistung für Gegenleistung, die Fürsorge bindet ihre Leistungen an Bedürftigkeit. Jetzt gerät beides durcheinander.

Die Rentenversicherung gerät zunehmend in Gefahr, sich als allgemeines Sozialamt zu etablieren. In den Verhandlungen der wahrscheinlichen Koalitionspartner war von einer Aufstockung der niedrigen Renten auf monatlich 850 Euro die Rede. In dem Vertrag ist diese Zahl nicht enthalten, der Vorschlag aber ist populär. Jedem sei die Aufbesserung einer kargen Rente gegönnt. Aber dieser Weg ist ein Schlag gegen die Beitragsgerechtigkeit, die das Grundprinzip der Rentenversicherung ist. Die Rente ist schließlich keine fürsorgliche Zuwendung des Staates, sie ist ein mit Beiträgen selbst erarbeitetes Einkommen. Arbeit und Lohn sind die Quellen der Rentenversicherung und der Stolz der Rentnerinnen und Rentner.

Das System ist übergeschnappt

Wenn ein Rentner nach lebenslanger Arbeit von seiner Rente nicht leben kann, dann ist das System übergeschnappt. Es ist nämlich rentenpolitisch verrückt, wenn man mit Arbeit und Beitragszahlung nur so viel Rente bekommt wie ohne diese Arbeit Sozialhilfe. Die Arbeit lohnt sich rentenpolitisch nicht mehr. Mit der Riester-Rente wurde das Rentenniveau in die Nähe des Sozialhilfeniveaus befördert. Die Rente, die auf Arbeit und Beiträgen basiert, und die Sozialhilfe, die an Bedürftigkeit anknüpft, nähern sich an.

Jetzt liegt das Kind im Brunnen, die Rettungstruppen rücken aus. Dabei steht Deutschland erst am Anfang der zunehmenden Altersarmut. Die Riester-Rente ist nicht die Lösung des Problems, sondern sein Grund. Das Niveau der gesetzlichen Rente wird infolge der Riester-Rente abgesenkt, obwohl die Riester-Rente keine Hilfe für Arbeitslose, Erwerbsunfähige, unstetig Beschäftigte bietet.

Auch die jetzt geplante Lebensleistungsrente (auch Solidar- oder Zuschussrente genannt) bietet keine Lösung für die Kandidaten der kommenden Altersarmut. Die niedrigen Renten sollen aufgestockt werden, aber nur nach langjähriger Versicherungs- und Beitragszeit. Gefordert werden 45 Versicherungs- und 35 Beitragsjahre. An dieser Hürde werden gerade die scheitern, denen Armut droht. Die sind aber von der Absenkung des Rentenniveaus am härtesten betroffen.

Die Lebensleistungsrente stiftet Ungerechtigkeit

Es können eben nicht Systemfehler durch Detailkorrekturen beseitigt werden. Es ist wie beim Zusammenknüpfen eines Hemdes: Wenn der erste Knopf im Hemd falsch eingeknöpft wurde, kann das nicht korrigiert werden, ohne die ganze Leiste wieder aufzuknöpfen. Die Lebensleistungsrente stiftet Ungerechtigkeit im Rentensystem.

Als Beispiel können drei Rentner dienen, von denen jeder monatlich 850 Euro aus der Rentenkasse erhält - jeder jedoch aus anderen Gründen. Der erste erhält 850 Euro aus der Grundsicherung, die für besonderen Bedarf aufgestockt wird. Der zweite erhält 850 Euro als aufgestockte Lebensleistungsrente. Zu guter Letzt kommt der Rentner, der 850 Euro Rente erhält, die er allein seiner Arbeit und seinem Beitrag verdankt. Bei dieser Art von Gleichbehandlung kommt Freude auf.

Die Ungereimtheiten der Aufstockung sind damit noch nicht am Ende. Für die Lebensleistungsrente ist der Nachweis einer Privatversicherung die Voraussetzung. Die Leistung der gesetzlichen Pflichtversicherung wird an den Abschluss einer freiwilligen Privatversicherung geknüpft. Das ist originell. Die Rentenversicherung leistet so Schlepper- und Zubringerdienste für die Privatversicherung.

Und weiter geht es mit dem Verwirrspiel: Während für die Lebensleistungsrente eine Privatversicherung die Voraussetzung ihres Bezuges ist, wird die Privatversicherung auf die Grundsicherung angerechnet. Was in dem einen Fall gut ist, ist also im anderen schlecht.

Doch beide Fälle werden von der Rentenversicherung abgewickelt; es ist wie bei einem Fahrrad, dessen Vorderrad vorwärts und dessen Hinterrad rückwärts fährt. Im Zuge der weiteren Assimilierung der Rentenversicherung an die Sozialhilfe kommt es beim Bezug der Lebensleistungsrente zu Einkommensüberprüfung und Einkommensanrechnung des Versicherten und seines Ehegatten. Der Sozialstaat wird zum Sozialamt mit viel Papier, Formularen.

"Bist du reich oder bist du arm?" Das wird zum Ohrwurm des Sozialsystems. Mit einer Rentenversicherung hat das nicht mehr viel zu tun. Die interessiert sich ausschließlich für die Frage: "Warst du solidarisch und hast Beiträge bezahlt?" Ich will nicht in einem Schnüffelstaat leben, auch nicht unter dem Vorwand, dass er dadurch ein Sozialstaat sei. Dann wäre der Sozialstaat Nachfahre des alten Polizeistaates in der Maske des Wohltäters.

Rente relativiert Arbeitsfaktor

Systematisch koppelt sich die Rente von der Arbeit und der Leistungsgerechtigkeit ab. Das geschieht nicht mit einem Schlag, sondern Schritt für Schritt. Die Lebensleistungsrente ist der nächste. Die Aufstockungsprojekte sind Abkopplungsprojekte. Selbst der Grundstock, auf den aufgebaut wird, relativiert den Arbeitsfaktor.

Aufgestockt auf die gleiche Höhe wird die Rente, egal ob Teilzeitarbeit oder Vollzeitarbeit die Basis war. Teilzeit führt zur gleichen Lebensleistungsrente wie Vollzeitarbeit. Warum dann Vollzeit arbeiten, wenn das Rentenergebnis nicht besser ist als nach Teilzeitarbeit? An diesem Detail zeigt sich die zunehmende Vernachlässigung des Faktors Arbeit im Rentenrecht. Der Rentner, der stolz auf seine selbst erarbeitete Rente war, wird zur aussterbenden Spezies. Beerbt wird er vom dankbaren Empfänger staatlicher Zuwendungen.

Die neue bunte Vielfalt der Alterssicherung ähnelt dem durch Privilegien und Benachteiligungen differenzierten DDR-System, das in Sonder- und Zusatzrenten aufgefächert war, und zuletzt auch von seinen Erfindern nicht mehr durchschaut worden war. Das Kuddelmuddel in der Sozialversicherung ist der Wegbereiter ihrer Verstaatlichung. Am Ende der Verwirrung stehen die Vereinfacher, die alles verstaatlichen. Die als Privatisierer mit der kapitalisierten Rente auszogen, kehren als Verstaatlicher mit zerrissenen Hosenbeinen zurück.

Das "staatlich garantierte Mindesteinkommen" wird das krönende Ende sein, welches das Durcheinander beendet. Das ist einfach, nivelliert und ungerecht. Basta.

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Quelle:
SZ vom 02.12.2013/les
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