Lateinamerika:Ratlose Revolutionäre

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Die linke Welle, die in den vergangenen Jahren Lateinamerika überrollt hat, ebbt ab, konservative Regierungen gelangen wieder an die Macht. Die Sozialisten tragen daran einen Teil der Schuld.

Von Sebastian Schoepp

Als Kuba nach dem Ende der Sowjetunion taumelte, brauchte Fidel Castro einen neuen Partner und Rohstofflieferanten. 1994 empfing der Comandante in Havanna deshalb einen jungen Venezolaner. Zwei Jahre hatte der Fallschirmjäger Hugo Chávez nach einem gescheiterten Putschversuch in seiner Heimat im Gefängnis gesessen. Anders als die meisten Militärs in Lateinamerika war er nicht rechts, sondern links. Die Begegnung hatte schicksalhafte Folgen. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", den Castro und Chávez austüftelten, war der Beginn eines Linksrucks, der fast ganz Lateinamerika erfasste. Seine fernen Ausläufer haben inzwischen in Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sogar den angloamerikanischen Raum erreicht. Doch ausgerechnet jetzt, da postmarxistische und kapitalismuskritische Ansätze im Rest der Welt gesellschaftsfähig zu werden scheinen, sind sie in ihrer Ausgangsregion am Ende.

Die Linke verspielt ihre Macht, die alte Rechte kehrt zurück

Mehr als eine Dekade lang war Lateinamerika eine Art Laboratorium für Alternativen zur reinen Lehre des Marktes gewesen. Während alle Welt auf Privatisierungskurs ging, erfand Lateinamerika eine Art tropischer Sozialdemokratie, die den Staat stärkte und durch Umverteilung eine neue Mittelschicht schuf - und nebenbei eine ganz neue gesellschaftliche Offenheit praktizierte, bis hin zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in einigen Ländern.

So viel revolutionärer Impetus fand Anhänger bis nach Europa. Lateinamerikanische Vordenker wie Ernesto Laclau inspirierten Bewegungen in Griechenland, Spanien und Portugal. Lateinamerika habe gezeigt, dass die Linke gewinnen könne, sagte ein Gründer der spanischen Podemos-Bewegung, Juan Carlos Monedero. Doch nun zeigt Lateinamerika: Die Linke kann auch wieder verlieren. Venezuela taumelt ins Chaos, in Argentinien haben die Linksperonisten die Macht eingebüßt. In Brasilien muss die Ex-Guerillera Dilma Rousseff ein Amtsenthebungsverfahren über sich ergehen lassen. Und ausgerechnet in Kuba gießt Raúl Castro bei einem Kongress der Einheitspartei leise Ironie über dem Einparteiensystem aus. War's das mit dem Sozialismus fabricado en América Latina? Vorläufig wohl schon.

Der Grund des Niedergangs ist komplex. Es ist eine Mischung aus Verbrauchtheit, Starrsinn und den Fehlern des Latino-Paternalismus, in dem stets eine Führungsperson glaubt, ohne sie gehe es nicht. Am augenscheinlichsten tritt das in Venezuela zu Tage. Dort gewann Hugo Chávez von 1998 bis zu seinem Tod 2013 alle Wahlen - weil er den Massen in den barrios, den ärmeren Vierteln von Caracas und anderswo, das Gefühl gab, ernst genommen zu werden und weil er die Öleinnahmen erstmals unters Volk brachte. Doch er versäumte es, für schlechte Zeiten vorzusorgen, tat nichts, um eine moderne Wissens- und Produktivgesellschaft aufzubauen. Mit dem Verfall der Ölpreise verfällt nun sein System. Zudem war Chávez ein klassischer Caudillo, der sich bis zum Tod an die Macht klammerte und nur unfähige Hofschranzen hochkommen ließ.

Doch auch da, wo für Nachfolge gesorgt wurde, ist die Linke in der Krise. In Brasilien hievte der Volkstribun Luiz Inácio Lula da Silva seine Nachfolgerin Rousseff in den Präsidentensessel, aus dem sie nun bald herauskatapultiert werden wird. Sie hat ihre Gegner unterschätzt, die ihre geringe Beliebtheit eiskalt nutzen. Es ist eine von dreieinhalb Legislaturperioden Machtlosigkeit frustrierte, alte, weiße, postkoloniale Elite, eine Art amazonischer Super-Tea-Party, die mitnichten daran dachte, sich in der Opposition zu erneuern oder zu verjüngen. Sie wendet lieber Tricks an, um sich an die Macht zu boxen, die Leute wie der Vizepräsident Michel Temer an der Wahlurne schwerlich erringen könnten.

Nicht zu Unrecht wird Temer auf Twitter nachgesagt, er habe die Ausstrahlung eines Butlers aus einem Horrorfilm. Der dringend nötige Umbau der Wirtschaft, an dem schon die fleißige, aber glanzlose Rousseff scheiterte, ist von dieser nur am Eigennutz interessierten Elite nicht zu erwarten. Eher taumelt Brasilien zurück in die 1990er-Jahre, die eigentlich als verlorene Dekade gelten - was ja der Grund für den Linksruck gewesen war.

Ausgerechnet zwei der ärmsten Länder stechen positiv hervor. Bolivien und Ecuador haben das größte Wachstum Lateinamerikas aufzuweisen und die ernsthaftesten Versuche, Alternativen zum reinen Rohstoffverkauf zu entwickeln. Trotzdem haben die Wähler in Bolivien Präsident Evo Morales kürzlich in einem Referendum signalisiert: Drei Amtszeiten sind genug. Das ist ein Indiz, dass die Bevölkerungen stark an demokratischer Reife gewonnen haben - im Zweifelsfall mehr als ihre Regenten.

© SZ vom 04.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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