Süddeutsche Zeitung

Lateinamerika:Wenn Fernsehkomiker, Unternehmer und korrupte Autokraten einen Kontinent regieren

  • Lateinamerika steht ein Superwahljahr bevor. Etwa zwei Drittel der rund 640 Millionen Latinos wissen derzeit noch nicht, von wem sie Ende 2018 regiert werden.
  • In Kolumbien, Mexiko, Brasilien, Paraguay, Kuba und Venezuela werden Präsidenten vom Volk gewählt oder neu ernannt.
  • Angesichts der allgemeinen Politikverdrossenheit geht der Trend in Lateinamerika zu Quereinsteigern. Es kandidieren Unternehmer, Fernsehkomiker und Ex-Guerilleros.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Rodrigo Londoño hat seine guten Vorsätze für 2018 in einem öffentlichen Brief kundgetan. Er will Kolumbien versöhnen. Londoño, 58, wünscht sich, dass der Frieden, der bislang vor allem auf dem Papier existiert, so schnell wie möglich umgesetzt wird, dass nach fünf Jahrzehnten Bürgerkrieg eine neue Zukunft beginnt in seinem Land. Er hat auch schon eine Idee, wie sich das bewerkstelligen ließe: indem ihn die Kolumbianer Ende Mai zu ihrem neuen Staatspräsidenten wählen.

Das wird wohl ein kühner Karrieretraum Londoños bleiben. Abgesehen von seinem treuen Gefolge glaubt kaum jemand in Kolumbien, dass ausgerechnet er als Friedensengel taugt. Londoño, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Timoschenko, gehörte als Anführer der Farc-Guerilla bis vor Kurzem noch zu den Protagonisten einer schier endlosen Schlacht mit gut 220 000 Todesopfern. Die entwaffnete Farc wirbt jetzt als politische Partei um Stimmen und will den Staat künftig mit demokratischen Mitteln verändern. Allemal besser als weiter Krieg zu führen, meint der scheidende Präsident Juan Manuel Santos, der für seine Friedensbemühungen 2016 den Nobelpreis erhalten hat. Santos, der nicht wieder antreten darf, wird trotzdem (oder gerade deswegen) mit unterirdischen Umfragewerten abtreten. Viele Kolumbianer sind der Meinung, dass Leute wie Londoño nicht auf Wahlplakate, sondern in Zellen gehören.

Man lehnt sich nicht weit aus dem Fenster, wenn man prognostiziert: Eine kolumbianische Farc-Regierung wird es auch 2018 nicht geben. Sehr wohl dürfte der Umgang mit den ehemaligen Guerilleros aber das derzeit noch völlig offene Rennen um die Präsidentschaft entscheiden. Gewinnt einer der Falken oder einer der Versöhner? Die Wahl im Mai wird auch ein Referendum über den wackeligen Friedensprozess - und damit über eine der wenigen positiven Nachrichten, die Lateinamerika zuletzt produziert hat.

Die allgegenwärtige Frage: Lohnt es sich überhaupt, zur Wahl zu gehen?

Insgesamt befindet sich der Subkontinent in einem beklagenswerten Zustand. Wo man hinblickt, blüht die Korruption, steigt die Gewalt, regiert die Schamlosigkeit. Von der Aufbruchs- und Fortschrittsstimmung der 1990er-Jahre nach dem Ende der Militärdiktaturen ist nicht mehr viel übrig. Was die zum Teil sehr unterschiedlichen Länder zwischen dem Rio Grande und Feuerland verbindet, ist die erschreckende Vertrauenskrise in die demokratischen Institutionen. Gerade deshalb steht die Region aber vor einem wegweisenden Jahr, denn neben Kolumbien wird auch in Mexiko (Juli), Brasilien (Oktober) und im oft vergessenen Paraguay (April) ein neuer Präsident gewählt. Darüber hinaus will Kuba einen Nachfolger für Raúl Castro bestimmen - in einem Verfahren, das nur mit zwei zugedrückten Augen als Wahl bezeichnet werden kann. Auch der venezolanische Autokrat Nicolás Maduro hat angedroht, dass er sich im Lauf des Jahres erneut zum Präsidenten wählen lassen will, wobei er die Oppositionsparteien vorsichtshalber verbieten möchte.

Etwa zwei Drittel der rund 640 Millionen Latinos wissen derzeit noch nicht, von wem sie am Ende dieses Superwahljahres 2018 regiert werden. Und die allgegenwärtige Frage lautet: Lohnt es sich überhaupt, zur Wahl zu gehen?

Symptomatisch ist die Lage der beiden regionalen Großmächte Mexiko und Brasilien. In Mexiko endet im Frühsommer die Amtszeit von Enrique Peña Nieto, 51, der vor fünf Jahren als smarter Hoffnungsträger gestartet war und dann im Eiltempo alle Hoffnungen enttäuschte. Er wollte die Korruption und die Macht der Drogenkartelle eindämmen und stand bald selbst unter Klüngelverdacht. Was die Mordstatistik betrifft, so hat 2017 alle Rekorde übertroffen. Peña Nieto wird ein von mittelalterlicher Gewalt geplagtes Land hinterlassen, in dem die Krisenstimmung längst da war, bevor der Mauerbau-Fan Donald Trump das Weiße Haus eroberte. Seine "Partei der Institutionalisierten Revolution" (PRI), die mit kurzer Unterbrechung seit fast 90 Jahren regiert, ist inzwischen so unbeliebt, dass sie den ehemaligen Finanzminister José Antonio Meade zu ihrem Präsidentschaftskandidaten kürte - weil er kein Parteibuch hat. In Umfragen liegt derzeit aber Andrés Manuel López Obrador, 64, vorne, ein Linkspopulist, der sich schon zwei Mal vergeblich um das Amt beworben hatte.

Die Rückkehr der alten linken Schlachtschiffe aus Mangel an Alternativen, dieses Szenario kommt auch den Brasilianern bekannt vor. Dort zieht der ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, 72, als Anführer aller Umfragen in den Wahlkampf - obwohl er wegen Korruption erstinstanzlich zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Noch ist nicht abzusehen, wer ihn stoppen soll, abgesehen vom Berufungsgericht, das Ende Januar entscheiden will, ob der Favorit antreten darf.

Angesichts der allgemeinen Politikverdrossenheit geht der Trend in Lateinamerika zu Quereinsteigern. In Argentinien und Chile haben zuletzt die milliardenschweren Unternehmer Mauricio Macri und Sebastián Piñera die Wahlen gewonnen, in Guatemala der Fernsehkomiker Jimmy Morales. Brasiliens populärster TV-Moderator Luciano Huck hat aber gerade erklärt, er habe kein Interesse. Und die führenden Unternehmer der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas sitzen fast alle im Gefängnis.

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SZ vom 04.01.2018/jsa
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