Lateinamerika:Jenseits von Utopia

Nicaragua war einst ein Sehensuchtsort der Linken, besonders in Deutschland. Wie es dazu kam, dass daraus ein mörderischer Schurkenstaat wurde.

Von Boris Herrmann

Es gab in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ein Codewort für eine bessere Welt. Es stand für Basisdemokratie, Bildung für alle und kostenlose Gesundheitsversorgung, für Emanzipation, Solidarität und christliche Nächstenliebe, für landwirtschaftliche Kooperativen, fair gehandelten Kaffee und naive Kunst. Dieses Wort hieß: Nicaragua.

Heute bezeichnet dasselbe Wort einen zentralamerikanischen Schurkenstaat, in dem regierungstreue Schlägertruppen Jagd auf alle machen, die sich für die Demokratie einsetzen. Studenten, Rentner und Witwen werden niedergeschossen, Erwachsene, Kinder und Schwangere in ehemalige Folterzentren eingesperrt. Menschenrechtler zählen mehr als 300 Tote seit Beginn der Proteste Mitte April. In vier Jahrzehnten hat sich Nicaragua vom Paradies der Friedensbewegten zur Hölle für Freiheitsliebende entwickelt. Es sind schon andere Utopien gescheitert, aber selten auf so zynische Art. Einer der Weltverbesserer von damals ist der Schlächter von heute.

Nicaraguas Revolutionsführer Daniel Ortega hatte vielleicht keinen so schönen Bart wie der Kubaner Fidel Castro und keinen so guten Fotografen wie der Guerillaführer Che Guevara, aber dafür hatte er die Unterstützung der Priester und Poeten, also praktisch des ganzen Volkes, denn in Nicaragua ist fast jeder ein Poet. Ortegas sympathische Guerilleros von der sandinistischen Front verjagten 1979 den Diktator Anastasio Somoza. "Nicaragua, Nicaragüita, jetzt, da du frei bist, liebe ich dich noch viel mehr", sangen die Menschen. Und die halbe Welt sang mit, allen voran die deutsche Linke.

Vielleicht tut sich manch Alt-Linker auch deshalb noch schwer mit der Einsicht, dass sich "Comandante Daniel" im Alter von 72 Jahren endgültig in einen Tyrannen verwandelt hat. Einst errichtete er Barrikaden, jetzt lässt er jene ermorden, die Barrikaden bauen. Eigentlich Stoff für ein Drama, wenn es nicht schon so oft erzählt worden wäre.

Die Revolution, die sich selbst verrät, und im Rausch des Triumphes ihre Kinder frisst, das ist ein Leitmotiv der Weltgeschichte. Entworfen im jakobinischen Frankreich, vielfach kopiert in Afrika, Südostasien und nicht zuletzt in Lateinamerika, wo die zähesten Despoten stets als heldenhafte Befreier angefangen haben: der Mexikaner Porfirio Díaz, die kubanischen Castro-Brüder und eben auch Daniel Ortega in Nicaragua.

Dass sich die Revolutionsbewegungen auf diesem Subkontinent so konsequent ins Chaos bewegen, hängt gewiss auch mit dem anderen Amerika weiter im Norden zusammen. Die Vereinigten Staaten haben den Utopien in ihrem Hinterhof nie eine Chance gegeben. Im Fall von Nicaragua ging es ihnen darum, ein zweites Kuba zu verhindern. Präsident Ronald Reagan rüstete ehemalige Schergen Somozas zu den berüchtigten Contras auf und zettelte damit einen Bürgerkrieg an, in dem 30 000 Menschen starben. Wenn es in der Lateinamerikapolitik der USA einen roten Faden gibt, dann besteht er darin, ehemals linken Idealisten allgemeinverständliche Rechtfertigungen für ihre Autokratien zu liefern.

Das schmälert aber nicht den Eigenbeitrag Ortegas an dem aktuellen Desaster. Der christliche Dichter Ernesto Cardenal, einer der intellektuellen Köpfe der sandinistischen Befreiung, datiert den Selbstmord seiner Revolution auf das Jahr 1990. Damals gab es noch freie Wahlen in Nicaragua und die FSLN, die Partei der Sandinisten, wurde überraschend abgewählt. Vor der Machtübergabe bediente sich ein Teil der Führungsriege aber noch rasch mit Grundstücken, Immobilien und Unternehmen aus dem Staatsbesitz. Jeder Nicaraguaner kennt das heute als die Piñata, den Bonbonregen. Ortega, der aus armen Verhältnissen stammt, ist seither ein Multimillionär.

Anderthalb Jahrzehnte brauchte er, um wieder an die Macht zu gelangen. Und diesmal ist er wild entschlossen, sie nicht mehr herzugeben. Dafür geht er über Leichen. Cardenal und die meisten anderen ehemaligen Genossen gehören heute zu seinen schärfsten Kritikern, denn Ortega verkörpert alles, was die Sandinisten einst bekämpft hatten. Er errichtete einen Einfamilienstaat mit seiner Frau als Vizepräsidentin und seinen Kindern als Großkapitalisten. Als er aber im April friedliche Proteste niederknüppeln ließ, die sich an einer Rentenkürzung entzündet hatten, verschätzte er sich grob. Seitdem ist eine Revolution gegen den Revolutionsverkäufer im Gange, die ihn hoffentlich aus dem Amt fegen wird, bevor noch mehr Leute sterben.

Dafür bräuchte es nach 40 Jahren nun wieder eine neue Soli-Bewegung für Nicaragua. Sie müsste in internationalem Druck bestehen, am besten ideologiefrei von links wie von rechts. Und es wäre schon ein Anfang, wenn die sogenannte freie Welt ein bisschen mehr Aufmerksamkeit aufbrächte für das Unrecht in diesem kleinen Land, das einmal voller großer Träume steckte.

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