Süddeutsche Zeitung

Debatte um Lockerungen:Das Schäuble-Prinzip

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Die Politik dürfe sich in der Corona-Krise nicht ausschließlich am Schutz des Lebens orientieren, fordert der Bundestagspräsident und klingt wie ein Befürworter weiterer Lockerungen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

Von Stefan Braun, Berlin

Wolfgang Schäuble und die Kunst des Interviews - das ist eine schon fast unendliche Geschichte. Keiner sitzt länger im Bundestag als der CDU-Politiker; keiner hat an so vielen Stellen politisch gewirkt wie der gebürtige Freiburger. So war der heute 77-Jährige unter anderem Bundesinnenminister, Bundesfinanzminister und Kanzleramtschef. Gibt er Interviews, geht es oft ans Eingemachte - und das meist in einer Mischung aus intellektueller Analyse und Lust an der Provokation. Häufig setzt Schäuble erst harsche Botschaften und dann viele Nachdenklichkeiten. So kann er hinterher bei zu viel Ärger erklären, dass er nur intensiv nachgedacht und einige Denkanstöße formuliert habe.

So war es, als der damalige Innenminister im Jahr 2007 im Kampf gegen den Terror Zweifel an der Unschuldsvermutung äußerte. Es war so, als er in der Schuldenkrise über eine Insolvenz Griechenlands nachdachte. Und es war nicht anders, als er mitten in der Flüchtlingskrise das Bild von einer Lawine entwarf, die ein unvorsichtiger Skifahrer losgetreten habe. Der Name der Kanzlerin fiel nicht, aber jedem war klar, dass Schäuble Angela Merkel meinte. Welterklärer und Provokateur - das ist die Rolle, in der sich Schäuble seit Langem besonders gern sieht.

Schutz der Menschenwürde schließe nicht aus, dass "wir sterben müssen", so Schäuble

In dieses Muster passt denn auch, dass der Bundestagspräsident auch mit seiner jüngsten Äußerung große Wellen geschlagen hat. Mitten hinein in die Debatte um Lockdown und Lockerungen in der Pandemie-Krise hat Schäuble eine für manchen überaus provozierende Botschaft gesetzt. Genau genommen sind es sogar zwei gewesen. Der Berliner Zeitung Tagesspiegel sagte er: "Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig." Auch der Schutz der Menschenwürde schließe nicht aus, dass "wir sterben müssen". An anderer Stelle fügte er hinzu: "Wir dürfen nicht alleine den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen."

Wer will, kann das seit Sonntagmorgen wie eine einzige große Kritik lesen. An der Kanzlerin, an den vermeintlich zu harschen Maßnahmen. An den Kriterien. Und eine Kritik daran, dass die Virologen zu viel und die anderen Abwägungen in der Regierung bislang zu wenig Beachtung gefunden hätten. Manchem passt diese Botschaft in den Kram, weil ihm die harten Beschränkungen sowieso zu viel sind. Das gilt insbesondere für jene in der Opposition, die schon in der vergangenen Woche im Bundestag weitere Lockerungen anmahnten, namentlich die AfD und die FDP Christian Lindners.

Laschet nutzt Schäubles Kritik als Bestätigung seiner Politik

Doch während diese beiden Parteien derzeit trotz aller Lautstärke kaum eine Rolle spielen, ist das mit einigen Ministerpräsidenten anders. Insbesondere Nordrhein-Westfalens Regierungschef Armin Laschet hat sich persönlich mit dem Ziel baldiger Lockerungen verbunden. Es ist deshalb nur konsequent, dass Laschet die Vorlage nutzt und Schäubles Sätze als Bestätigung seines Kurses interpretiert. So sagte er in der ARD: "Wolfgang Schäuble hat absolut recht." Man müsse die Debatte viel breiter führen und dabei auch Ökonomen, Soziologen, Familienexperten zu Wort kommen lassen: "Ich stimme mit ihm da vollkommen überein."

Schäuble, der Merkel-Kritiker und Laschet-Helfer? Das klingt so und wird seither von interessierter Seite auch so verbreitet. Trotzdem ist es nur die halbe Geschichte. Auch dieses Mal wieder. Denn der Parlamentspräsident verteidigt zugleich das langsame Vorgehen der Regierung. Ja, er liefert mit ähnlicher Entschlossenheit eine zweite Botschaft, die eigentlich nur die Interpretation zulässt, dass die Kanzlerin vieles richtig mache. "Man muss vorsichtig Schritt für Schritt vorgehen und bereit sein zu lernen", so Schäuble, "man tastet sich da ran. Lieber vorsichtig - denn der Weg zurück würde fürchterlich." Nicht anders argumentierte die Kanzlerin in der vergangenen Woche, als sie vor einer zweiten Infektionswelle warnte. Schäuble fügt noch hinzu, dass es jetzt auf "das richtige Maß" ankomme. Das zu finden, sei allerdings "irrsinnig schwierig". Spätestens jetzt klingt Schäuble kaum noch nach Laschet und sehr viel mehr nach dem grundsätzlichen Agieren von Angela Merkel.

Überhaupt hat Schäuble seine harten Aussagen auch diesmal in viele sanfte eingebettet. Redet er übers Risiko in dieser Krise, spricht er über sich selber. Mit allen Vorbelastungen gehöre er längst zur Hochrisikogruppe. Trotzdem sei seine Angst beschränkt. Größer jedenfalls sei seine Sorge um die Jüngeren. Deren Risiko sei eigentlich viel größer: "Mein natürliches Lebensende ist ein bisschen näher."

Am Ende landet Schäuble denn auch dort, wo er in den allermeisten Fällen hin möchte. Er plädiert für mehr Debatte, mehr Transparenz, mehr Kenntlichmachung dessen, was abgewogen und entschieden werden müsse. Seine Begründung: "Wenn sich die Menschen weiterhin verstanden fühlen und nachvollziehen können, warum das alles notwendig ist, dann habe ich die Hoffnung, dass wir das bewältigen können."

Ab da wird das Interview zu einer Verteidigung der Politik insgesamt. Sie müsse trotz größter Unsicherheit entscheiden und handeln. Nichtstun nämlich wäre "das Allerschlimmste" gewesen. Im Übrigen würden ihm derzeit jene gefallen, die wie Gesundheitsminister Jens Spahn offen darüber sprechen, dass alle miteinander noch viel zu lernen hätten und man in einigen Wochen vielleicht feststelle, "dass wir manches besser anders gemacht hätten".

Provokation? Nachdenklichkeit? Am Ende mal wieder beides zusammen.

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Quelle:
SZ vom 28.04.2020
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