Lange vor dem Nahostkonflikt:Juden als Schutzbefohlene der Muslime

Juden an der Klagemauer, 1931

Erst waren sie den Palästinensern willkommen: Jüdinnen beim Gebet an der Klagemauer im Jahr 1931

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Israel gegen die Palästinenser: Der Nahostkonflikt ist ein hässliches Kind der Moderne. Bis in die Neuzeit hinein arrangierten sich Juden und Muslime meistens gut miteinander, oft sogar besser als mit den Christen.

Von Matthias Drobinski

Zu den Geschichten meines Vater gehört, wie er damals nach Marokko trampte. Das war 1956. In Frankreich gab es oft finstere Gesichter und finstere Worte für die jungen Deutschen, der Krieg war gerade elf Jahre her. Die Spanier waren weniger empfindlich, doch zum Triumphzug wurde die Wanderschaft in Marokko.

Die Leute wetteiferten, wer sie beherbergen durfte, und immer war da einer, der ihnen auf die Schulter schlug und rief: HITLER GUTT!! Mein Vater und seine Freunde fühlten sich sehr unwohl. Sie waren im Namen der Völkerverständigung aufgebrochen. Aber so hatten sie sich die nicht vorgestellt.

"Hitler gut! Der hat die Juden bekämpft." Das war 1956 in der arabischen Welt so populär wie heute die Sympathie für die Islamisten von der Hamas, die dem übermächtigen Israel die Stirn bieten. Wenn in Gaza die Raketen fliegen, bedrohen Demonstranten in Frankreich Moscheen und schreien in Deutschland antisemitische Parolen. Kindersendungen islamistischer TV-Anstalten propagieren den Judenhass.

Jüdische Fundamentalisten halten andersherum Muslime für minderwertig. Der Hass auf die anderen ist überall, millionenfach verstärkt und verteilt über die sozialen Netze. Doch wer die nun doch schon bald 1400 Jahre gemeinsame Geschichte der beiden Weltreligionen anschaut, merkt: Die Feindschaft ist ein Produkt der Moderne, des 19. und 20. Jahrhunderts. Es ist die tragische Geschichte einer Entfremdung.

Die Geschichte der Juden und der Muslime beginnt mit Mohammeds Neugier - und mit einer Enttäuschung. Auf der arabischen Halbinsel gibt es im siebten Jahrhundert jüdische Kolonien. Mohammed ist beeindruckt vom strengen Monotheismus der Juden, von den klaren Lebensregeln, der Rationalität ihres Glaubens. Er interessiert sich auch für die Christen, doch viel stärker baut die Religion, die da entsteht, auf dem Judentum auf.

Rauer Ton gegenüber verstockten Juden

Im Koran ist Abraham das Urbild des gottgefälligen Lebens, Moses verkündet die göttlichen Gesetze. Die Knabenbeschneidung, das tägliche Gebet, die Reinheitsregeln, der strenge Monotheismus im Gegensatz zur christlichen Lehre des dreieinen Gottes - alles kommt übers Judentum in den Islam.

Mohammed wirbt sehr um die Juden, für ihn sind sie als "Schriftbesitzer" mit Achtung zu behandeln. Allein: Die Juden wollen sich nicht bekehren, sie halten an ihrer Religion fest. Mohammed ist zornig - und so kommt ein rauer Ton gegenüber den angeblich verstockten Juden in den Koran: Juden sind hochmütig. Sie haben zwar die Schrift empfangen, wollen aber die Wahrheit nicht erkennen.

Und dann verbünden sich 628 auch noch die Juden von Khaybar mit Mohammeds Feinden in Mekka. Die Truppen des Propheten belagern die Stadt, mit Erfolg: Der Kampf ist blutig, am Ende aber müssen die Bewohner um Gnade flehen. Mohammed verschont sie, ihren Besitz aber müssen die Juden abgeben.

Sie bitten daraufhin, ihre Felder weiterhin bestellen zu dürfen - sie verstünden mehr vom Ackerbau als die Araber. Mohammed stimmt zu, unter der Bedingung, dass die Bewohner von Khaybar die Hälfte ihrer Erträge abgeben. Ein Modell ist geboren: Die Muslime vernichten die Besiegten nicht. Sie stellen sie auch nicht vor die Wahl, sich zu bekehren oder zu sterben. Sie schützen jene, die sich ihnen unterwerfen.

Bürger zweiter Klasse unter islamischer Herrschaft

Der Status des "dhimmi", des Schutzbefohlenen, entsteht nun, des Bürgers zweiter Klasse unter islamischer Herrschaft. Es ist ein hochgradig praktikables Modell. In kaum zu glaubendem Tempo stoßen die islamischen Herrscher von 634 an in das Machtvakuum vor, das der Niedergang des Römischen Reiches in der Mittelmeerwelt hinterlassen hat.

Die Mehrheit ihrer neuen Untertanen sind keine Muslime. Sie alle zu zwingen oder gar zu überzeugen, den neuen Glauben anzunehmen, würde die Kalifen vor große Probleme stellen. Also bieten sie den Besiegten einen Vertrag an: Schonung gegen Unterwerfung.

Das gilt vor allem für die "Schriftbesitzer", für Juden und Christen. Sie müssen Abgaben zahlen. Sie dürfen keine Synagogen und Kirchen bauen, keine Waffen tragen oder Pferde und Kamele reiten, auch gemeinsam mit Muslimen baden dürfen sie nicht. Und aller Schutz kann jederzeit widerrufen werden.

Man spricht arabisch in der jüdischen Welt

Mit modernen Vorstellungen von Rechtsstaat, Religionsfreiheit oder dem Schutz von Minderheiten hat das alles wenig zu tun. Und trotzdem können die Juden im islamischen Herrschaftsgebiet verhältnismäßig gut leben, meist besser als in den christlichen Gebieten: Dort gelten die Juden als "Gottesmörder", die Jesus ans Kreuz geschlagen haben. In den muslimischen Städten sind sie als Händler, Handwerker und Finanzfachleute willkommen.

Bagdad wird zum Zentrum des mittelalterlichen Judentums, man spricht arabisch in der jüdischen Welt, nicht mehr hebräisch oder aramäisch. Die Juden sind Beförderer und Teilhaber des Aufstiegs der Stadt, der Oberste der jüdischen Gemeinde in Bagdad wird faktisch das religiöse Oberhaupt aller Juden. Die jüdische Philosophie und Theologie blüht, auch in Ägypten und in Andalusien.

Die Juden werden die Banker der muslimischen Herrscher - im Islam ist es verboten, Zinsen zu nehmen, im Judentum nicht. Sie sind im 10. bis zum 12. Jahrhundert die bedeutendsten Dichter arabischer Sprache. Der Talmudlehrer, Philosoph, Soldat, Politiker und Kunstförderer Samuel Hanagid (993-1056) schreibt Liebesgedichte mit einer Erotik, die heute noch wirkt. Sein Haus ist ein Palast mit einem Springbrunnen, "dessen Wasser von oben in Form einer Kuppel auf einen Fußboden aus Marmor und Alabaster herabfällt", wie ein Zeitgenosse voller Bewunderung berichtet.

Moses ibn Esra (1055-1138) schreibt seine Theorie über die hebräische Literatur auf Arabisch. Moses Maimonides aus Córdoba wird im 12. Jahrhundert zum großen Universalgelehrten, als Philosoph, Theologe, Rechtsgelehrter und Arzt.

Später, im 18. und 19. Jahrhundert, zeichnen die Aufklärer dieses Miteinander in den schönsten Farben, um der eigenen christlichen Umgebung zu zeigen, wie intolerant sie ist. Gotthold Ephraim Lessings "Nathan der Weise" ist das bekannteste Beispiel dafür: Der gute Nathan und der weitherzige Herrscher Saladin stehen gegen den fundamentalistischen Patriarchen von Jerusalem, der Nathan auf den Scheiterhaufen bringen will: "Tut nichts, der Jude wird verbrannt!"

Leben auf schwankendem Grund

In Wahrheit aber leben die Juden auch unter muslimischer Herrschaft auf schwankendem Grund. Der Schutz von oben ist eine Gnade, kein Recht. 807 verfügt der Abbasiden-Kalif Harun al-Raschid, dass Juden gelbe Gürtel zu tragen hätten, anderswo sind es gelbe Kapuzen, auch Glocken und hölzerne Kalbsfiguren.

Von 1058 an müssen Juden in Bagdad gelbe Flecken an ihrer Kleidung anbringen. Es ist die Zeit, in der die Almoraviden in Spanien und Nordafrika ihre Herrschaft errichten, Berberstämme, die Toleranz gegenüber Andersgläubigen ablehnen. 1066 stürmt in Granada der Mob den Königspalast, kreuzigt den jüdischen Wesir Joseph ibn Naghrela, den Sohn des Dichters Samuel Hanagid, und massakriert die jüdischen Bewohner der Stadt. Ungefähr 4000 Menschen werden ermordet.

Ibn Esra flieht ins christliche Spanien, die Familie des Maimonides wandert über Jerusalem nach Kairo. Nach der Eroberung des Byzantinischen Reichs 1453 durch die Türken wird Istanbul zum neuen Zentrum des jüdischen Lebens in der muslimischen Welt. Die Osmanen zeigen sich tolerant. Als 1492 die Christen Spanien endgültig zurückerobert haben, treiben sie als Erstes die Juden aus dem Land, ermorden Tausende. Viele fliehen nach Istanbul. Im 17. Jahrhundert zählt man dort 44 Synagogen.

Im 18. Jahrhundert beginnt in Europa die Judenemanzipation. Juden wollen nicht mehr geduldete Bürger zweiter Klasse sein. Tatsächlich werden sie, trotz aller Schwierigkeiten, vielerorts Teil des bürgerlichen Lebens. Der Niedergang des Osmanischen Weltreichs hat da bereits begonnen, viele Juden aus Istanbul suchen nun ihr Glück im aufstrebenden Westen - in Berlin zum Beispiel.

Von der Idee des Judenstaats durchglüht

1879 gründet der deutsche Journalist Wilhelm Marr die "Antisemitismus-Liga", für ihn sind Juden eine minderwertige Rasse, die auch nicht durch Taufe oder germanische Erziehung zu verbessern sei. Der Antisemitismus, früher religiös motiviert, wird nun immer völkisch-rassistischer, dieser Weg endet später in Auschwitz.

Es ist die Zeit, in der von den 1880er-Jahren an immer mehr Juden nach Palästina gehen, enttäuscht von Europa und seinem wachsenden Antisemitismus; der französische Baron Edmond Rothschild kauft ihnen Grund und Boden im Land der Urahnen. 1897 tagt der erste Zionistenkongress in Basel, Theodor Herzl hat ihn einberufen, der von der Idee eines Judenstaates durchglühte österreichisch-ungarische Journalist.

Die arabischen Palästinenser, die dort leben, freuen sich zunächst über die Neuankömmlinge, die Gegend ist arm und dünn besiedelt. Doch bald gibt es Streit. Immer mehr Juden kaufen das Land, Zuwanderer stehen gegen Alteingesessene. Viele dieser Zuwanderer wollen vor Antisemitismus und Verfolgung sicher sein, sie träumen vom Sozialismus und bewirtschaften im Kollektiv ihre Felder. Die arabischen Nachbarn interessieren sie weniger.

Im Ersten Weltkrieg verspricht der britische Außenminister Arthur James Balfour den Juden "die Errichtung einer nationalen Heimstätte", wenn sie die Alliierten unterstützen - und bricht das Versprechen, als die Briten anschließend Mandatsmacht in Palästina werden.

Auch unter den Arabern wächst der Nationalismus, er richtet sich gegen die neuen Besatzer, die Briten, und gegen die Juden. Es kommen die Nazis in Deutschland an die Macht. Es gibt Krieg. Aus ganz Europa fliehen die Juden ins britische Mandatsgebiet. Und als die Amerikaner, Russen, Engländer die Konzentrationslager befreien, kommen Zehntausende der überlebenden Juden ins Land, das ihnen endlich einen eigenen Staat verspricht.

Es gibt Anschläge und Massaker: Juden gegen Araber, Araber gegen Juden. Der Nahostkonflikt ist geboren, als schreckliches Kind des Kolonialismus und des Holocausts, des Nationalismus und des Missverhältnisses von Land und Ideologie.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: