Superwahljahr Ost:Bitte genauer hinschauen

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Ein Herz für die AfD, doch was steckt dahinter? Höcke-Anhängerin in Thüringen. (Foto: Hannes P Albert/dpa)

Was ist nur los im Osten, fragen sich viele angesichts der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Doch die Realität ist komplexer. Was hier passiert, blüht der ganzen Republik: Fünf Lektüretipps.

Von Ulrike Nimz

Martin Debes: Deutschland der Extreme (2024)

Martin Debes: Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert. Ch. Links Verlag, Berlin 2024. 280 Seiten, 20 Euro. (Foto: Ch. Links)

In Thüringen dichteten Goethe und Schiller um die Wette. Hier schuf Adolf Hitler seinen Mustergau. Hier ließ sich ein FDP-Mann in Cowboystiefeln mit Hilfe der AfD für einen Tag zum Ministerpräsidenten wählen. Hier führt ein linker Christ eine Minderheitsregierung an und ein rechtsextremer Geschichtslehrer die Umfragen. Der Journalist Martin Debes kennt dieses ganz und gar nicht „neue“ Bundesland wie kaum ein Zweiter. In langen Linien und ohne Alarmismus zeichnet er die Konflikte nach, die zu einer (noch) einzigartigen politischen Blockade geführt haben: Erosion der Volksparteien, Aufstieg der Völkischen, Vertrauensverlust in die Demokratie und ihre Vertreter. Thüringen, das arbeitet Debes präzise heraus, liegt nicht irgendwo im Osten, sondern in der Mitte Deutschlands. Was hier passiert, blüht der ganzen Republik.

 Marcus Böick: Die Treuhand (2020)

Marcus Böick: Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990-1994. Suhrkamp, Berlin 2020 (Erstauflage bei Wallstein, Göttingen 2018), 766 Seiten, 29,95 Euro (Broschur) (Foto: Suhrkamp)

„Bürger zweiter Klasse“ – so sehen sich viele Menschen im Osten Deutschlands noch immer. Eine Antwort auf die hilflose Frage, wo Wut und Systemskepsis wurzeln, steckt in diesem Buch. Auf mehr als 700 Seiten beleuchtet der Historiker Marcus Böick die Arbeit des „Privatisierungsmonsters“ Treuhand, das von 1990 bis 1994 zwei Drittel der ostdeutschen Betriebe vom kollabierenden Realsozialismus in den Kapitalismus überführte – und ein Drittel abwickelte. Die Entwertung der Lebensläufe, das Gefühl von Unterwerfung, das damit einherging, düngte das Feld, das die AfD heute beackert. In seiner fulminanten Studie begnügt Böick sich jedoch nicht mit der Beschreibung von Unrecht und Trauma, wie dem Hungerstreik im Kaliwerk Bischofferode. Er will die Treuhand als Institution fassbar machen, die Menschen verstehen, die in dieser „Arena des Übergangs“ aufeinanderprallten: Ostdeutsche und Westdeutsche, Arbeiter und Firmenchefs, Politiker und Wähler. Die Geschichte der Treuhand ist gesamtdeutsch und lehrt viel über das Heute.

Grit Lemke: Kinder von Hoy (2021)

Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. Suhrkamp, Berlin 2021 (Erstauflage). 259 Seiten, 12 Euro (Broschur) (Foto: Suhrkamp)

Hoyerswerda, das war einst eine sozialistische Musterstadt am Rande des Braunkohletagebaus, voller Glückssucher, die an das Zukunftsversprechen glaubten, das in Weltall-Mosaiken an den Wänden der Wohnblöcke prangte. Anfang der Neunziger nahmen sich Neonazis die Straße, griffen ein Wohnheim für DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik an. Der Staat kapitulierte, Bürger klatschten Beifall. Grit Lemke, Autorin und Regisseurin des ebenfalls sehenswerten Films „Gundermann Revier“, hat einen dokumentarischen Roman geschrieben über das Aufwachsen an der Abbruchkante der Geschichte. Darin verschränkt sie die Stimmen verschiedener Generationen. Die Kinder von Hoy blicken mal schonungslos, mal zärtlich auf ihre Heimatstadt – ein faszinierendes Mosaik.

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit (2022)

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp Berlin 2022 (Erstauflage). 480 Seiten, 17 Euro (Broschur) (Foto: Suhrkamp)

Die AfD ist keine Protestpartei. Öfter als aus Frust wird sie inzwischen aus Überzeugung gewählt. Nicht nur in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, auch von Menschen, die gut situiert sind, hohe Bildungsabschlüsse haben und trotzdem Abwehrreflexe gegen Umbrüche wie Globalisierung, Migration und Gleichstellung der Geschlechter pflegen. Spätestens mit Ausbruch der Corona-Pandemie hat sich ein Milieu formiert, das dem Staat zutiefst misstraut, sich unterdrückt wähnt, solidarisches Miteinander aufgekündigt hat – Selbstverteidigungsmodus. Politische Zuschreibungen wie „rechts“ und „links“ werden dieser Entwicklung nicht mehr gerecht. Die Literaturwissenschaftlerin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey führen den nur auf den ersten Blick paradoxen Begriff des „libertären Autoritarismus“ ein und wagen eine Annäherung an jene, die in der Demokratie um ihre Freiheit fürchten. Ein Buch für alle, die ihre Nachbarn nicht mehr verstehen.

Anne Haeming: #ownsx-Newsletter

Dieser mysteriöse Osten – er beschäftigt Reporterinnen, Essayisten, Filmemacher, Podcasterinnen nicht nur vor Landtagswahlen. Manche von ihnen leben sogar freiwillig zwischen Ahlbeck und Zittau, arbeiten für Regionalzeitungen oder das Lokalradio, sind damit näher dran als jeder Hauptstadtmedienmensch. Wer Kontinuität in der Berichterstattung, Tiefe in der Analyse und Meinungsvielfalt sucht, dem sei der Newsletter der Autorin, Journalistin und Wissenschaftlerin Anne Haeming empfohlen. Alle 14 Tage kuratiert sie wichtige Beiträge zu Ost-West-Perspektiven, nach Themen geordnet, unterhaltsam und kostenlos.

Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen diskutiert die SZ am 11. September im Münchner Künstlerhaus über die Stärke populistischer Parteien und den Zustand der deutschen Einheit. Gesprächspartner sind die Dramatikerin und Essayistin Anne Rabe („Die Möglichkeit von Glück“) und der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk („Freiheitsschock – Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“). Karten gibt es hier.

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