Dieser Drei-Wahlen-Sonntag wird in die bundesdeutsche Geschichte eingehen; er war und ist nämlich ein Blick in die Zukunft der deutschen Demokratie. Er zeigt, wie sich das Zerbrechen der alten Parteienlandschaft fortsetzt; und er lenkt den Blick auf die Gefahren, die der Demokratie drohen; sie tragen das Kürzel AfD; der Osten bräunelt. Der Drei-Wahlen-Sonntag zeigt aber auch, wie man den Gefahren begegnet: mit entschlossener Gelassenheit, wie sie das Kennzeichen Winfried Kretschmanns ist.
Sein fantastischer Erfolg in Baden-Württemberg lehrt, wie wichtig die Glaubwürdigkeit und Integrität von Spitzenkandidaten heute sind. Die Strahlkraft einer so populären Persönlichkeit kann größer sein als die Anziehungskraft einer noch so populistischen Partei. Das ist eine der guten Antworten auf die AfD-Erfolge; auch Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz hat ja die dahinsiechende SPD wieder aufrichten können. Diese Antwort stärkt auch, trotz der schlechten bis desaströsen Ergebnisse der CDU, deren Parteichefin Angela Merkel; sie stärkt aber nicht unbedingt den SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Der AfD-Erfolg : Kein Anlass für Hysterie
Der Wahltag zeigt: Alles fließt; das angeblich Sichere ist nicht sicher. Es gibt kein Naturgesetz, wonach die SPD nur noch verlieren kann; das lehrt das Beispiel Rheinland-Pfalz; die SPD verliert freilich überall dort, wo sie als kleiner Koalitionspartner figuriert. Es ist auch kein politisches Prinzip, dass es keine Wiederauferstehung gibt; die FDP ist wieder auferstanden. Und es ist auch keine Regel, dass man mit Merkel'scher Flüchtlingspolitik nur verlieren kann: Kretschmann und Dreyer haben damit gewonnen.
Archimedes hat einst seine Hebelgesetze wie folgt erklärt: Gib mir einen festen Punkt im Weltall und einen Hebel, der lang genug ist - dann hebe ich die Erde aus den Angeln. In Baden-Württemberg ist diese Physik im Politischen wirksam geworden: Kretschmann hat die CDU aus den Angeln gehoben, die dort jahrzehntelang so stark war wie die CSU in Bayern. Der Hebel war seine Person, nicht seine Partei.
Bemerkenswert ist freilich, dass die AfD ohne eine echte Spitzenfigur reüssiert. Warum? Man hat immer gewusst, dass es in der Bundesrepublik fremdenfeindliche Einstellungen bei bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung gibt - so wie in anderen EU-Ländern auch, wo sich Rechtsaußen-Parteien längst etabliert haben. In Deutschland glaubte man aber bisher, dass dieser sogenannte Bodensatz ohne charismatische Führungsfigur nicht aktiviert werden kann. Es zeigte sich nun, dass es diese Figur nicht braucht. Le Pen oder Orbán werden in Deutschland durch den zur Unperson erklärten "Flüchtling" ersetzt. Diese Unperson ist die Leitfigur der AfD geworden; sie hat das Flüchtlingsthema zur Generalmobilisierung genutzt.
Diese Partei ist ein Hort der aggressiven Nostalgie und einer rohen Bürgerlichkeit. Im Westen der Republik ist sie rechts- und nationalliberal, man findet dort auch die Federn vom abgebrochenen rechten Flügel der CDU; im Osten der Republik ist die AfD radikaler, ist sie völkisch und rassistisch; sie ist dort eine revitalisierte NPD und zeigt ausgeprägte Verachtung für demokratische Regeln und Umgangsformen. Umso erschütternder ist ihr Großerfolg in Sachsen-Anhalt.
Die NPD saß vor fünfzig Jahren, in ihren erfolgreichsten Zeiten, in sieben Landtagen; die AfD sitzt jetzt in acht. Sie ist gefährlicher, als es die NPD damals war, weil sie mehr bürgerlichen Anschluss hat. Bedrohlich für eine liberal-aufgeklärte Gesellschaft ist die AfD nicht nur wegen der Wahlerfolge, sondern weil mit ihr der gesellschaftliche und politische Diskurs nach scharf rechts verschoben wird. Die von Thilo Sarrazin im Jahr 2010 freigesetzte Menschenfeindlichkeit hat in der AfD ihre Partei gefunden: Es wird heute allenthalben über Themen diskutiert, die vor einem Jahr noch als indiskutabel galten.
Was tun? Das Land darf sich von der AfD nicht hysterisieren lassen. Die Zivilgesellschaft ist auch in der Flüchtlingskrise stark; die nach wie vor große Hilfsbereitschaft fand aber seit Silvester viel weniger Beachtung als jede Kapriole der AfD. Es gibt noch immer (und trotz aller Fokussierung auf die AfD) einen breiten aufgeklärten Konsens in Deutschland. Und es gibt, hoffentlich, die Kraft der anderen Parteien, diesen Konsens inhaltlich zu verteidigen. Das wird künftig auch in Regierungsbündnissen geschehen müssen, die bisher unüblich waren; Dreier-Koalitionen werden notwendig sein.
Es gibt noch eine große Lehre aus dem Wahlsonntag: Deutschland braucht eine Politik, die auf den Zusammenhalt der Gesellschaft setzt. Das ist keine Floskel, sondern eine Politik, die die soziale Sicherheit stärkt; dann wird die AfD auch für die Abgehängten dieser Gesellschaft keine Alternative mehr sein.