Süddeutsche Zeitung

Landtagswahlen:Diese Wahlen verändern Deutschland

Grüne vor der CDU. Mehr als 20 Prozent für die AfD. SPD im Sinkflug. Und in allen drei Ländern: völlig offen, wer mit wem regiert. Szenen einer Wahlnacht.

Reportage von Hannah Beitzer, Magdeburg, Gianna Niewel, Mainz, und Gunnar Herrmann

Sonntagmorgen in Mainz, die Wahllokale haben gerade geöffnet, und der 69-jährige Herbert Wermter hat sein Kreuz gemacht. Wermter hat eigentlich immer die SPD gewählt, erst wegen Brandt, dann wegen Schmidt, dann wegen Schröder. Und immer, weil er an deren Werte glaubte, an soziale Gerechtigkeit und das Gemeinwohl. Diesmal hat Wermter nicht die SPD gewählt. Und nein, er sei niemand, der ahnungslos pöbele. Auf Flüchtlinge schießen? "Großer Unsinn." Trotzdem: Diesmal hat Wermter sein Kreuz bei der AfD gemacht.

Was ist da in Deutschland passiert, an diesem 13. März? Vordergründig nur das: Die Menschen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt haben neue Landtage gewählt. Aber es war keine gewöhnliche Wahlnacht, die Deutschland erlebt hat. Es war eine Nacht, in der man in wenigen Stunden beobachten konnte, wie sehr sich das Land verändert hat - und in der man spüren konnte, wie sehr es sich immer noch verändert. Weil die alten Gepflogenheiten, die jahrzehntelang die politische Landschaft der Bundesrepublik bestimmten, nicht mehr gelten. Was sicher war, ist heute ungewiss. Was einst als unmöglich galt, scheint wahrscheinlich.

Es reicht ein kurzer Blick auf die Wahlergebnisse, um das zu verdeutlichen. Sie sind voll von Einzigartigkeiten. In Baden-Württemberg: Die Grünen liegen vor der CDU, erstmals in der bundesdeutschen Geschichte. In Sachsen-Anhalt: Die AfD, bislang gar nicht im Magdeburger Landtag vertreten, holt aus dem Stand 24 Prozent und überholt Linke und SPD. Die Sozialdemokraten stürzen in ein historisches Tief, in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt erreichen sie nur noch das Niveau einer Kleinpartei. Sie können trotzdem in Rheinland-Pfalz mit der Spitzenkandidatin Malu Dreyer ihre Führungsrolle im Parlament behaupten. Wie es weitergeht, ist in Mainz aber ebenso offen wie in Stuttgart oder Magdeburg: Überall konnten die Parteien der Amtsinhaber sich zwar gegen ihre Herausforderer behaupten - aber in allen drei Ländern wurden die bisherigen Koalitionspartner von den Wählern so heftig abgestraft, dass eine Regierungsbildung mit den alten Verbündeten nicht mehr möglich ist.

Was also ist passiert? Wer das erfahren möchte, spricht am Besten erst einmal mit den Leuten, auf die es bei einer Wahl vor allem ankommt: mit den Wählern. Wermter, graue Haare, beiges Hemd, Cordhose, heißt eigentlich anders, aber er will nicht, dass sein Name im Internet auftaucht. Der Ex-SPD-Wähler erzählt, er habe sein ganzes Leben lang an Autos geschraubt, nun sei er Rentner. Besorgt sei er. Was ihn störe: Dass "der Gabriel sich mehr um sich sorgt als um die Partei. Der weiß doch gar nicht mehr, was die Menschen umtreibt". Ihn etwa treiben die Flüchtlinge um, wie so viele Deutsche. Erst vor ein paar Wochen noch habe seine Frau Hemden für die Flüchtlinge in die Kleiderkammer getragen, die er gewaschen und gefaltet habe. Natürlich müsse man helfen. "Aber doch nicht allen", sagt er. Stille. "Oder?" Zum einen also wolle er die SPD mit seinem Stimmentzug rügen. Zum Zweiten sei die AfD die einzige Partei, bei der er das Gefühl habe, dass sie "meine Sorgen anhört". Deshalb wählte er, der immer für die Sozialdemokraten stimmte, sie diesmal nicht.

Diesmal nicht - diese Worte beschreiben die Wahlen vom 13. März vielleicht am treffendsten. Es ist ja nicht nur Wermter aus Mainz zu einem Diesmalnicht geworden. Es gibt Diesmalnichte im ganzen Land. Es sind nicht nur Enttäuschte und Abgehängte, die sprunghaft geworden sind. "Diesmal nicht" ist eine Art Lebensgefühl geworden im politischen Frühling des Jahres 2016. Ein Lebensgefühl, das die da unten genauso erfasst wie die dort oben. Die Unzufriedenen ebenso wie die, denen es blendend geht. Den einfachen Herrn Müller genauso wie oberschwäbische Familienunternehmer. Zum Beispiel Wolfgang Grupp. Der schillernde Chef der Textilfirma Trigema, bei Fernsehzuschauern vor allem wegen eines Werbespots bekannt, in dem er mit einem Schimpansen auftritt. In der Landespolitik war er dafür bekannt, dass er immer die CDU unterstützte. Diesmal nicht. Diesmal hat Grupp kurz vor der Wahl seine Unterstützung für die Grünen kundgetan - wie übrigens auch viele andere Mittelständler im Ländle. Es war auch diese Art von Zuspruch, die Winfried Kretschmanns Partei zu ihrem historisch bislang einmaligen Erfolg verhalf.

Leute wie den Ex-SPD-Wähler Wermter und den ehemaligen CDU-Unterstützer Grupp mag auf den ersten Blick wenig verbinden, und doch stehen sie gemeinsam für eine Entwicklung, die Parteienforscher schon länger beobachten: Die klassischen Milieus, die in der alten Bundesrepublik einst den Politikbetrieb bestimmten, lösen sich auf. Die Bindung an eine Partei, die früher oft schon in der Jugend geprägt wurde und dann ein Leben lang das Wahlverhalten bestimmte, sie schwindet. Der moderne Wähler wechselt die Parteien wie der Trigema-Schimpanse seine Hemden. Er entscheidet jedes Mal vor der Wahl erneut, wem er seine Stimme gibt - und dabei achtet er viel mehr als früher auf die Personen, die zur Wahl stehen. Der Bedeutungsverlust der Parteien - er rückt die Kandidaten in den Mittelpunkt. Das ist gut, wenn man starke Kandidaten hat. Wenn man sie nicht hat, wird es schwierig. Das merken selbst die großen Gewinner dieses Wahlabends.

Auf der Wahlparty der AfD in Magdeburg ist weniger los, als man es sich nach diesem Ergebnis vorgestellt hätte. Es sind wesentlich mehr Journalisten als Sympathisanten im Raum, die wenigen Stehtische, die von Menschen mit AfD-Ansteckern umstellt sind, sind geradezu eingemauert mit Kameras. Jeder will wissen, wie sie sich fühlen, die Sieger des Abends. Aber die sind noch unsicher in dieser Rolle. "Ein Problem ist, dass wir hier heute überhaupt keinen richtigen Repräsentanten haben", flüstert ein Mann einem anderen zu. Spitzenkandidat André Poggendorf ist im Landtag. "Da muss sich gleich noch mal einer auf die Bühne stellen", fährt der Mann fort und verschwindet nervös durch die Tür.

Die Rettung naht schließlich in Gestalt des thüringischen AfD-Politikers Björn Höcke. Der springt gegen halb sieben auf die Bühne und spult eine wohlerprobte Aneinanderreihung AfD-typischer Reizwörter ab. "Ihr habt gekämpft wie die Löwen für euer Land. Und die alten Kräfte haben wie die Schlangen gegen euch gekämpft. Aber das Gute wird siegen." Dafür, dass nur ein paar Dutzend Anhänger im Raum stehen, ist der Jubel unglaublich.

Interessant ist jedoch, dass dieses Laute und Konfrontative häufig schwindet, sobald sich ein Mitglied aus dem Knäuel der anderen herausbewegt. Zum Beispiel Max Teichert, 22 Jahre, Anzugträger wie viele junge Männer hier. Eigentlich wollte er immer FDP wählen. Dann ist er 2014 in die AfD eingetreten. "Wegen Professor Lucke, den fand ich gut." Wenn Max Teichert in die Zukunft schaut, dann ist da nichts von der Großspurigkeit, die etwa Björn Höcke auf der Bühne zeigt. "Es ist natürlich ein Problem, dass die Leute, die jetzt ins Parlament kommen, alle sehr unerfahren sind", sagt er. "Politik ist nicht so einfach, wie sie nach außen aussieht. Aber ich glaube fest daran, dass die Abgeordneten sich gut einbringen werden." Nach der großen Revolution, die Höcke auf der Bühne ausruft, klingt das nicht mehr. Keine Angst, dass die Wähler enttäuscht werden? "Na ja, die medienwirksamen Auftritte gibt es eher im Plenum", sagt er und grinst. Außerdem wisse er, dass viele Mitglieder der CDU an einer Zusammenarbeit mit der AfD interessiert seien. "Auch wenn sie das jetzt noch nicht offen sagen."

Früher, in der alten Bundesrepublik, da waren die Verhältnisse überschaubar: Es gab zwei große Volksparteien und ein bis zwei Mehrheitsbeschaffer. Die Volksparteien hatten meist jeweils einen Favoriten für die Koalitionsbildung - und wenn ihnen der Wähler diese Optionen verwehrte, konnten sie bei Bedarf auch miteinander in einer großen Koalition regieren. Aber diese Beschaulichkeit bröckelte bereits in den vergangenen Jahren. An diesem Wahlabend ist es vor allem die SPD, deren Macht in beispielloser Weise erodiert, zumindest in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt.

Auch deshalb sehen in Magdeburg die Gewinner an diesem Abend manchmal wie Verlierer aus. Reiner Haseloff hat zwar seine CDU erneut zu stärksten Partei gemacht. Aber mit wem er regieren kann, ist völlig unklar. Für eine große Koalition reicht es nicht mehr. Auf der Wahlparty der CDU wissen die meisten nicht so recht, wie sie sich auf dieses Ergebnis einen Reim machen sollen. Zwei Männer um die 40, einer im rosa Hemd mit dunklen Haaren, der andere blond im Anzug, lehnen mit je einem Bier in der Hand an einem Stehtisch und versuchen es trotzdem. "Ich kannte das früher so", setzt der im rosa Hemd an, der 1996 aus Niedersachsen nach Sachsen-Anhalt kam, "du kamst entweder aus einer CDU-Familie oder einer SPD-Familie - und so hast du gewählt. Aber hier war das schon immer anders."

Die Wähler in Sachsen-Anhalt hätten keine Bindung an eine spezielle Partei - da hätte eine wie die AfD immer bessere Chancen als anderswo. In der Tat gab es in Sachsen-Anhalt schon häufiger grandiose Aufstiege - und ebenso drastische Abstürze, von einer Wahl zur anderen. Dass diesmal der Koalitionspartner SPD abgestürzt ist, tut dem Mann am Stehtisch nicht so richtig leid. "Eigentlich bin ich kein Fan der großen Koalition. Wenn man das überhaupt noch so nennen kann." Da drängt sich die Frage nach einer Koalition mit der AfD geradezu auf. Doch der CDUler im rosa Hemd winkt ab. "Früher waren da kluge Köpfe drin. Aber die sind ja gegangen, als die ganzen Neonazis kamen."

Vorne auf dem Podium versucht der Landesvorsitzende Thomas Webel Stimmung zu machen: "Dass wir mal stärker werden als die CDU in Baden-Württemberg, das hätten wir auch nicht gedacht." Ob das so ein guter Vergleich ist? Die Mitglieder sind nachdenklich. "Ich freu mich zwar, dass die Kommunisten verloren haben, aber die Regierungsbildung wird halt schwierig", sagt zaghaft ein älterer Mann im grauen Anzug. Und dann sagt er, was viele sagen: Er könne schon nachvollziehen, warum Leute AfD wählen. Überall werde gekürzt, die Leute verdienten zu wenig Geld, bekämen keine Rente, "aber für Flüchtlinge sind Millionen da". Ist das Kritik an der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel? Er seufzt. "Ich bin froh, dass unser Ministerpräsident wenigstens eigene Akzente gesetzt hat." Reiner Haseloff suchte im Wahlkampf bewusst die Nähe zu CSU-Chef Horst Seehofer. Gereicht hat es nicht, die AfD klein zu halten. Und bei den CDU-Kandidaten in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ging die gleiche Strategie ganz offensichtlich nicht auf.

Bleibt also auch die Frage: Was lösen diese Wahlergebnisse aus, wenn die Schockwellen aus den Ländern über die Bundeshauptstadt Berlin hereinbrechen. Was bedeuten die Ergebnisse für Bundeskanzlerin Angela Merkel, deren Flüchtlingspolitik selbst von Parteifreunden für den Aufstieg der AfD mitverantwortlich gemacht wird? Und was bedeuten sie für den Vizekanzler Sigmar Gabriel, dessen Partei in zwei Bundesländern näher an zehn Prozent liegt als an 20?

Wenigstens in Rheinland-Pfalz scheint die sozialdemokratische Welt noch einigermaßen heile zu sein - daran haben auch abtrünnige Wähler wie Wermter nichts ändern können. David Freichel, SPD-Mitglied, steht nach der Wahlparty im Halbdunkel vor dem Abgeordnetenhaus, nimmt noch einen Schluck und grinst, als könne er das hier alles gar nicht glauben. Es ist sein drittes Bier oder sein viertes, ist ja auch egal. Was ein Abend! Gerade wurden oben, im zweiten Stock, die Ergebnisse verkündet. 36,2 Prozent für Malu Dreyer.

"Wahnsinn", sagt Freichel. Und tatsächlich ist es ziemlich erstaunlich, wie Dreyer in kürzester Zeit zugelegt hat. Was hat sie, was der SPD abgeht? Was hat sie, was zum Beispiel Sigmar Gabriel fehlt? Freichel lacht. "Dreyer kann die Menschen gewinnen", sagt er, "egal ob 20 im Vereinsheim, 200 im Bierzelt oder 2000 auf einem Marktplatz." Sie sei nicht so ehrgeizig wie manch anderer in der Partei, sie stehe sich nicht selbst im Weg. Und außerdem: "Regieren heißt, eine Haltung zu haben und diese Haltung zu wahren." Der junge Mann meint etwa Dreyers Entscheidung, nicht in einer Talkrunde mit der AfD zu sprechen. Die er für falsch hielt. Und dennoch fand er es gut, dass Dreyer dabei blieb. Er nimmt noch einen Schluck, hinter ihm geht die Tür auf und CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner huscht an den Fotografen vorbei. Freichel lacht. Und zeigt auf sein T-Shirt: "Die Hühner werden am Abend gezählt." Was man in etwa so interpretieren kann: Es mag manchmal alles klar scheinen, und dann kommt es doch ganz anders. Wer in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt in einigen Wochen regieren wird, das lässt sich jedenfalls nach diesem 13. März noch nicht sagen.

Videoproduktion: Lukas Ondreka

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