Süddeutsche Zeitung

Thüringen:Der Wald ist Thema Nummer eins im Wahlkampf

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Die hohen Fichten fällt der Sturm, auch den Buchen geht es schlecht. Thüringens Landesregierung will nun die Bäume retten - auch unter Beteiligung der Bürger. Und nebenbei ein paar Stimmen gewinnen.

Von Antonie Rietzschel, Osthausen

Anja Siegesmund kämpft gegen eine Wurzel. Sie hüpft auf einem Spaten herum, der halb im Boden steckt, hält sich am Stiel fest, fällt nach hinten um. Die weißen Sohlen ihrer Sneaker sind schwarz vom Matsch. Ein Forstarbeiter in Latzhose schaut zu. Er hätte den Spaten mit wenigen Hieben in den Boden gerammt, verkneift sich aber jeden Kommentar. Dann knackt es endlich.

Anja Siegesmund ist Umweltministerin in Thüringen. Gemeinsam mit Ministerpräsident Bodo Ramelow und weiteren Kabinettskollegen ist sie in einen Wald in Osthausen gefahren, südlich von Erfurt. Früher galt die Gegend als Fichtenhochleistungsstandort. Dürre und Borkenkäfer haben davon kaum etwas übrig gelassen. Davon zeugen die grauen Baumstümpfe, an deren Wurzelwerk sich die Politiker schwitzend abarbeiten. Sie graben Löcher, setzen kleine Bäumchen hinein. Vogelkirsche, Eiche, Douglasie. Es ist der Auftakt der Aktion "Thüringen pflanzt", bei der die Bevölkerung aufgerufen ist, beim Aufforsten zu helfen.

40 000 Hektar Wald sind in Thüringen bedroht. Im August hat die rot-rot-grüne Landesregierung einen Aktionsplan bis 2030 beschlossen und 500 Millionen Euro für Aufforstung, Technik und zusätzliches Personal in den Forstrevieren bereitgestellt. Das grüne Herz Thüringens ist in Gefahr, und am Geld soll es nicht scheitern, so die Botschaft, mit der SPD, Grüne und Linke derzeit hausieren gehen. Am 27. Oktober ist in Thüringen Landtagswahl. Der Wald ist Thema Nummer eins.

Doch der Kampf um den Wald ist nicht nur eine Sache des Geldes. Es ist ein Kampf mit einer unberechenbar gewordenen Natur. Sein Revier sei da das "Epizentrum", sagt Elger Kohlstedt. Der 58-Jährige ist Forstamtsleiter in Leinefelde im Nordwesten Thüringens. In seinen 16 000 Hektar Wald habe die Katastrophe früher begonnen als anderswo, erklärt er.

Kohlstedt lenkt seinen Geländewagen über holprige Wege. Weiches Sonnenlicht fällt durch die Baumkronen und zaubert Herbstromantik. Kohlstedt hält an einer struppigen Wiese. Auch hier ragen graue Baumstümpfe aus dem Boden. Am Rand liegen vertrocknete Äste, zusammengeschoben zu mannshohen Wällen. "Das war Friederike", sagt der Chef des Forstamts.

Im Januar 2018 zog das Orkantief mit Windstärke zwölf über Deutschland hinweg. In Kohlstedts Revier wütete Friederike besonders schlimm, entwurzelte 30 Meter hohe Fichten. 180 000 Bäume wurden zerstört. Der Forstamtsleiter schätzt, dass fast dieselbe Menge Dürre und Borkenkäfer zum Opfer fielen. In seinem Revier stapelt sich Holz, das niemand haben will. Früher bekam er für jeden Festmeter Fichte 90 Euro. Jetzt sind es 30 Euro.

Die Fichte ist längst nicht der einzige Problembaum in Kohlstedts Wäldern. Die Hitze hat in diesem Sommer auch der Buche zugesetzt. Im Leinefelder Forst macht sie den Großteil des Baumbestands aus. Es dauert nicht lange, bis Kohlstedt das erste silbrig-schimmernde Buchenskelett erspäht. Der mächtige Stamm ist hohl, die Rinde bröselig. Er läuft weiter, den Blick auf die Baumkronen gerichtet, zeigt auf kahle Äste: "Die ist tot", sagt er, und: "Die auch." An einer Buche hängen noch ein paar grüne Blätter an den Zweigen. "Die wird nächstes Jahr noch mal austreiben - aber eher als lebenserhaltende Maßnahme." Der Forstamtsmeister klingt hoffend und traurig zugleich.

Er kennt diese Wälder seit der Kindheit. Sein Vater arbeitete hier als Revierförster. Kohlstedt ging mit ihm auf die Jagd, pflegte junge Bäume. Nach dem Abitur studierte er Forstwirtschaft. Er war jahrelang stellvertretender Forstamtsleiter in Leinefelde, bevor er 2000 den Chefposten übernahm.

Es bräuchte jetzt mehr staatliche Baumschulen. Doch die wurden nach 1990 fast alle geschlossen

Wenn Kohlstedt in den Urlaub fährt, dann am liebsten nach Skandinavien, in den Wald. Seine Faszination kann er nur schwer mit eigenen Worten beschreiben. Also probiert er es mit einem Gedicht: "Er bringt uns immer wieder auf die Beine, das Seelische ins Gleichgewicht, verhindert Fettansatz und Gallensteine. Nur - Hausbesuche macht er leider nicht." Der Wald war für Kohlstedt Therapeut und Arzt. Seit das Orkantief Friederike wütete, kämpft nun er, damit der Wald überlebt.

Kohlstedt sieht darin aber auch eine Chance, die Architektur der Wälder zu verändern, sie mithilfe bestimmter Baumsorten besser zu wappnen gegen Stürme und Dürreperioden. So sieht es auch Thüringens Landesregierung. Sie hat das Ziel ausgegeben, jedes Jahr 20 Millionen Bäume neu pflanzen zu lassen. Unrealistisch, findet Kohlstedt. Dafür braucht es Arbeitskräfte und viel Platz für die Pflege der Setzlinge, doch nach der Wende wurden viele Mitarbeiter in der Forstwirtschaft entlassen, staatliche Baumschulen geschlossen. Die Förster kaufen ihre Pflanzen nun vor allem bei privaten Anbietern.

In Kohlstedts Revier steht die einzige noch staatliche Forstbaumschule in ganz Thüringen. Hier, nahe Breitenworbis, wächst der Baum der Stunde: die Eiche. Ihre Wurzeln reichen tief in die Erde. Bei anhaltender Trockenheit bekommt sie noch Wasser. Direkte Sonneneinstrahlung macht ihr nichts aus. Im Herbst 2018 wurden in ganz Thüringen 20 Tonnen Eicheln gesammelt und in Breitenworbis ausgesät. Kohlstedt hockt neben den zarten Pflanzen.

In einem Jahr, so sein Plan, sollen die Bäume in Forstrevieren in ganz Thüringen eingepflanzt werden. Zwei Millionen Stück. Was, wenn bis dahin ein weiteres Orkantief in den Wäldern wütet, die Hitze noch die letzten Buchen absterben lässt? Darüber wolle er gerade nicht nachdenken. "Ich bin Optimist", sagt er und streicht über die Blätter der Eichen. Sie sind fest und saftig grün. Sie sind seine Hoffnung.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2019
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