Landtagswahl Schleswig-Holstein:Ein Abend im Konjunktiv

In Schleswig-Holstein fahren die Ex-Koalitionäre CDU und SPD dramatische Verluste ein - und die FDP muss bangen, ob es für Schwarz-Gelb reicht.

Ralf Wiegand, Kiel

An solch einem Tag kann man doch nicht scheitern. Peter Harry Carstensen, 62, ist wieder zu Hause, auf seiner geliebten Halbinsel Nordstrand, wenigstens für ein paar Stunden. Hier ist Schleswig-Holstein am weitesten, Nachbarn halten mindestens 200 Meter Abstand voneinander, und dazwischen ist genug Platz für Abertausende Schafe.

Wie in einer Endlosschleife grasen sie tagein, tagaus die Wiesen ab, halten die Deiche kurz geschoren, wie es seit Jahrhunderten Brauch ist. Carstensen wählt wie immer daheim in Elisabeth-Sophien-Koog, Haus Nummer acht, schöner tiefroter Backstein und eine Menge Kühe im Stall. Wählen ist hier Feiertag, es gibt Kaffee und Schnittchen danach für die, die ihre Pflicht erledigt haben. Carstensen sitzt mit seiner Entourage im Wintergarten, während vor dem Fenster ein nachsichtiges Lüftchen das erste Laub von den Bäumen weht. Ein schöner Tag, sagt das breite Lachen des Ministerpräsidenten. Kein Tag zum Scheitern.

Carstensen wird wohl noch eine Weile zwischen den Welten schweben, der da draußen an Frieslands Küste und der in der Hauptstadt an der Förde, in das ihn seine schwarze Staatskarosse alsbald zurückkutschiert. Verglichen mit Elisabeth-Sophien-Koog wirkt sogar Kiel wie New York, und am Wahltag brummt es wie ein Bienenkorb. In das Summen und Sirren hinein versucht der Regierungschef bis spät in den Abend, seinen eigenartigen Wahlsieg unters Volk zu bringen, vor allem unters eigene. Die CDU muss damit leben, im Norden um fast zehn Prozent eingebrochen zu sein und trotzdem wahrscheinlich das Ziel erreicht zu haben, an dem sie noch vor viereinhalb Jahren vorbeigeschlittert war, trotz deutlich besseren Ergebnisses. Mit einer Mehrheit von einer Stimme könnte die Union mit der FDP das Land regieren, verhieß das Rechenzentrum auf der Basis von Zahlen, die noch wacklig waren. "Stoltenberg hat mit einer Stimme Mehrheit sehr gut regiert", sagt Carstensen. Große Schnittmengen seien besser als große Mehrheiten. Das ist schon länger seine Lehre, die er aus der im Streit versumpften großen Koalition gezogen hat.

Der Konjunktiv wird den ganzen Abend über im Kieler Landeshaus an der Förde regieren. Der Konjunktiv ist der Freund aller Verlierer, denn sie können sich im Moment der Niederlage dahinter verstecken wie hinter einem dicken Kissen. Tut dann alles nicht mehr so weh. Und es gibt Verlierer, Geschlagene, ja Vernichtete. Ralf Stegner zum Beispiel versucht noch zwischen alle anders lautenden Hochrechnungen ein "könnte" und ein "vielleicht" zu mischen, gewürzt mit einer Prise "warten wir es doch einmal ab". Noch sei doch nicht sicher, wer der nächste Ministerpräsident werde, sagt Stegner, der brutal geschlagene SPD-Spitzenkandidat, mit zwölf Prozent minus in einem historisches Tief. Immer fester drückt er das Kissen an sich, sagt, "das Ergebnis könnte sich ja noch ändern, und dann wären ganz andere Konstellationen möglich". Sein Lächeln wirkt dabei so echt, als hätte es ihm ein Arzt verschrieben.

Peter Harry Carstensen Lachen ist immer echt. Wenn man die Markenzeichen des Landesvaters aufzählen soll, dann muss zum schlohweißen Bart dieses tiefe, weihnachtsmännische Lachen genannt werden. Er findet es auch in dieser für ihn nicht angenehmen Nacht wieder. Am liebsten würde er sich derart lachend der FDP an den Hals werfen, aber da ist ja das schleswig-holsteinische Wahlrecht vor mit seinen sonderbaren Ausgleichsmandaten. Könnte alles noch kippen.

Eine wackelige Stimme. Also lacht sich Carstensen halt ein paar andere an und verrät schon mal seine Strategie, falls er die Grünen oder die Dänen vom Schleswig-Holsteinischen Wählerverband (SSW) dazuholen muss. Mit den Grünen könne man hervorragend arbeiten, "sieht man in Hamburg", und mit dem SSW "aber auch". Sogar eine Strategie hätte er schon: In Koalitionsverhandlungen werde er nichts anbieten. "Ein bisschen was vom Viehhandel verstehe ich ja. Mein Vater hat nie etwas angeboten. Er hat immer nur gefordert." Es folgt ein Lachen wie ein Nebelhorn.

Später am Abend verdichten sich die Zahlen zu einer vagen Gewissheit, es würde reichen für Schwarz-Gelb. Für Carstensen wird das zerrissene Leben zwischen dem elterlichen Hof in Nordstrand und seiner Kieler Stadtwohnung noch ein bisschen weitergehen.

Und Stegner, der ewig nach Macht strebende Karrierist, bleibt in der Warteschleife. Ihn begleitet zwar ein Klatschmarsch in den dritten Stock des Landeshauses, wo die SPD-Wahlkämpfer an Stehtischen den schmachvollen Wahlabend aussitzen. Der abgewatschte Kandidat sagt, halb zur Partei, halb zu sich selbst: "Man sollte jetzt nicht anfangen zu suchen, ob der oder der schuld daran ist." Am Ende noch er. Stegner klingt blechern durch die billigen Lautsprecher, er sucht nach einem Schimmer im Desaster, aber eher findet man einen Achttausender in Mikronesien. "Dass wir überhaupt noch darüber reden, ob es für Schwarz-Gelb reicht, ist ein Zeichen, dass wir aufgeholt haben", sagt er. Mit so wenig muss man in der Not zufrieden sein.

Im Publikum ist in diesem Moment auch Heide Simonis. Vor viereinhalb Jahren hatte sie Politikgeschichte geschrieben, oder besser jemand mit ihr, indem er sie viermal nicht zur Ministerpräsidentin wählte. Deshalb nur ist es zur großen Koalition gekommen, deshalb nur steht Stegner hier wie ein Abiturient, der durch die Prüfung gerasselt ist. Trocken sagt die Simonis, "meine eigene Niederlage hat mir gereicht, sie war persönlich sicher härter als seine." Aber um die SPD, da macht sie sich Sorgen. Die Menschen hätten mehr Angst vor der Zukunft, als sie zugäben, sagt sie, und dass sie sich wohl bei den Konservativen mehr Sicherheit versprechen. Das wäre für die SPD eine noch größere Katastrophe, als bloß die Landtagswahl zu verlieren: Wenn sie den kleinen Leuten in schweren Zeiten kein sicherer Hort mehr wäre.

In Zeiten des Sparens hielt sich die SPD stets für das gute Gewissen, damit nicht auf Kosten derer gespart wird, die eh nichts haben. Das wird jetzt wohl die FDP erledigen müssen, Soziales zum Beispiel könnte der bisherige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Heiner Garg übernehmen. Da ist er wieder, der Konjunktiv. Der Jubel der Liberalen flutet bei der ersten Hochrechnung das ganze Parlament, bis in den Keller ist das zu hören, dort ist das Restaurant. Aber dann nagt alsbald der Zweifel am Rekordsieg, was würde er wohl wert sein? Garg sagt, er erinnere sich noch gut an die Wahlnacht 2005. Kurz vor Mitternacht war es damals schon, da verlor die FDP im Zahlendschungel ihr fünftes Mandat und schwarz-gelb die Mehrheit. Diesmal hat der Wähler aus der Union die Luft rausgelassen, und die FDP fühlt sich wie ein Lottospieler, der ganz sicher sechs Richtige angekreuzt hat, aber vergessen haben könnte, den Schein auch abzugeben.

Der Konjunktiv ist halt auch der Feind aller Gewinner.

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