Landtagswahlen im Osten:Wie Ängste ernst nehmen, ohne sie zu schüren?

Lesezeit: 3 Min.

Ukrainische Flüchtlinge in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Brandenburg. (Foto: Soeren Stache/DPA)

Vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen zeigen Umfragen, was den Menschen dort am wichtigsten ist: das Thema Migration. Für die Wahlkämpfer der Mitte-Parteien bedeutet das eine Gratwanderung.

Von Tim Frehler, Berlin

Nicht einmal sechs Wochen sind es noch, bis die Menschen in Sachsen und Thüringen einen neuen Landtag wählen, wenig später sind die Brandenburger an der Reihe. Es wird ernst, zu sehen auch am erhöhten Verkehrsaufkommen politischer Schwergewichte in Richtung Osten: Am vergangenen Donnerstag reiste erst CDU-Chef Friedrich Merz ins sächsische Meerane, um dort gemeinsam mit Ministerpräsident Michael Kretschmer und Thüringens CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt aufzutreten. Einen Tag später kam der Kanzler nach Dresden.

Der Wahlkampf ist eröffnet. Und Friedrich Merz übertreibt wohl nicht, wenn er sagt, diese Wahlen würden nicht nur in Deutschland, sondern „in ganz Europa beobachtet“. Schließlich führt die AfD in allen drei Ländern die Umfragewerte an, in der Partei träumt man bereits von Regierungsverantwortung.

Wahlkämpfer in der Zwickmühle

In Sachsen und Thüringen, wo am 1. September gewählt wird, zeigen die letzten Umfragen, welche Themen den Menschen bei diesen Wahlen besonders wichtig sind: Auf dem zweiten Platz stehen laut Infratest Dimap in beiden Ländern Schule und Bildung. Das Thema Flucht und Zuwanderung liegt an erster Stelle. 44 Prozent der Wahlberechtigten in Sachsen und 39 Prozent derer in Thüringen sehen darin aktuell die drängendste Herausforderung.

Keine leichte Ausgangslage für die Wahlkämpfer: Viele Menschen erwarten, dass sich die Politik ihrer Sorgen diesbezüglich noch stärker annimmt. Gleichzeitig geht mit lauten Debatten ein Risiko einher. Denn, so sagt der Politikwissenschaftler Werner Krause von der Universität Potsdam, „solange Migration in der öffentlichen Debatte zuvorderst als Problem dargestellt wird, solange profitiert die AfD davon“.

Wie also damit umgehen?

Am Mittwochabend wählten sich bei den Grünen etwa 1500 ihrer Anhänger in eine Online-Diskussion ein, um sich anzuhören, welche Lehren Ricarda Lang und Omid Nouripour, die beiden Parteichefs, aus der Europawahl gezogen haben. Nach 37 Minuten wollten zwei Mitglieder wissen, „wie wir das Gefühl der Menschen, dass es beim Thema Migration einen Kontrollverlust gibt, ernst nehmen und gleichzeitig unsere Überzeugungen bewahren“.

Die Antwort der Parteichefin? Ein Sowohl-als-auch, Ängste ernst nehmen, sie aber nicht weiter schüren: Man wolle Kommunen finanziell besser unterstützen, europäische Lösungen umsetzen und mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integrieren. Aber auch „klare Kante“ zeigen, bei denjenigen, die schwere Straftaten begehen. Die Maßgabe laute, „beides sehr, sehr klar anzusprechen“, sagte Lang: „Sowohl, dass es den Wunsch nach Ordnung gibt, aber dass wir auch für Menschenrechte einstehen.“ Offensiv werde man etwa im sächsischen Wahlkampf jedoch nicht auf das Thema Migration setzen, hieß es am Donnerstag aus Parteikreisen.

Eine Gratwanderung, besonders für die Union

Ganz anders beim Bündnis Sahra Wagenknecht: In Sachsen wird das BSW großflächig plakatieren, dass „unkontrollierte Migration alle überfordert“, ähnlich in Thüringen: „Klare Regeln statt unkontrollierte Migration“.

Für die Unionsparteien ist ihre Positionierung eine Gratwanderung, denn immer wieder werfen ihre Vertreter der Bundesregierung vor, Probleme nicht in den Griff zu bekommen. Zuletzt etwa Generalsekretär Carsten Linnemann, der in einem Interview sagte, die Ampel patze bei den drei wichtigsten Themen: „Migration, Migration, Migration“.

Die Kritik aus den eigenen Reihen folgte prompt: Wer einseitig auf dieses Thema setze, „spielt am Ende nur der AfD in die Karten“, sagte der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, Dennis Radtke, der Süddeutschen Zeitung. Am Ende könnten einige Wähler eben doch zum Original, sprich: zur AfD tendieren. Den früheren CSU-Generalsekretär, Markus Blume, führte das schon 2020 zu der Erkenntnis: „Du kannst ein Stinktier nicht überstinken.“ 

„Das Thema nicht größer machen als es ist“, rät der Experte

Kann man ein Thema, das fast die Hälfte der Wahlberechtigten in den beiden Bundesländern als wichtigstes Problem ansehen, denn einfach aussparen?

Nein, findet Thüringens CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt. „Das Thema Migration treibt die Thüringer um und darf nicht verschwiegen, sondern muss gelöst werden.“ Im Gegensatz zur AfD habe seine Partei konkrete Vorschläge und könne diese mit ihren kommunalen Vertretern auch umsetzen. Flächendeckend will Voigt die Arbeitsverpflichtung in Gemeinschaftsunterkünften und die Bezahlkarte für Flüchtlinge einführen. Außerdem brauche es ein zentrales Rückführungszentrum, Voigt will aber auch die Anerkennung der Abschlüsse von Fachkräften beschleunigen.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, ebenfalls CDU, sagte beim Wahlkampfauftakt in Meerane am Donnerstag dann der Sächsischen Zeitung zufolge: „Wir treten dafür ein, dass die irreguläre Migration drastisch reduziert wird.“ In ihrem Programm fordert seine Partei etwa eine Obergrenze für Asylbewerber, die auf Bundesebene bei 60 000 liegen soll. Sachsen würde demnach „rund 3000 Asylbewerber pro Jahr aufnehmen“. Das wären deutlich weniger als im vergangenen Jahr.

Der Politikwissenschaftler Werner Krause findet hingegen, man sollte das Thema „nicht größer machen, als es ist“. Dass 44 Prozent der Menschen in Sachsen und 39 Prozent der Thüringer in Sachen Migration auf Antworten pochen, sei ja auch ein Resultat der öffentlichen Debatten, sagt Krause. „Es ist ja nicht so, dass die Menschen morgens aufstehen und sich fragen, was für sie heute eigentlich das dringendste Problem ist.“ Aber in den vergangenen Jahren sei Zuwanderung in der Öffentlichkeit eben überwiegend als Herausforderung dargestellt worden.

Krause rät den Parteien der Mitte daher dazu, die Chancen zu betonen, die mit dem Zuzug von Menschen verbunden sind, etwa was den Fachkräftemangel anbelangt. Und andererseits im kommenden Wahlkampf „andere Themen in den Vordergrund zu rücken“, etwa den Kaufkraftverlust durch die Inflation, die Frage, wie man für mehr Wohnraum oder mehr Kitaplätze sorgen könne. „Das sind ja auch reale Lebensbedingungen, die bei den Menschen Unzufriedenheit auslösen und die sie gelöst haben wollen.“

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusRiesa
:Wer bleibt hier noch?

In Riesa kann man dem Echo verpasster Chancen nachlauschen und die Tatkraft der Trotzigen bestaunen. Hier findet man Grantler und Abwanderer, Malocher und Träumer, stolze Menschen, die sagen: Jetzt erst recht. Wer bleibt hier? Und warum?

Von Cornelius Pollmer, Fotos: Rosa Burczyk und Stella Weiß

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: