Es ist morgens kurz vor neun, als Hannelore Kraft in ihren Dienstwagen steigt und eine kleine Ausschau gibt auf das, was nun passieren wird: Akten lesen, Zeitungen lesen, Rede schreiben. Davor gilt es aber, noch etwas Grundsätzliches zu klären. "Erst mal muss ich gucken, dass ich klarkomme", sagt Kraft. Womit genau bleibt offen. Mit sich, der frühen Morgenstunde? Oder mit dem ganzen Amt?
Eine Woche lang hat Hannelore Kraft ein Videotagebuch geführt, hat sich selbst gefilmt, wie sie in ihrer rollenden Pfalz die Akten durchgeht, die Zeitungen liest und am Abend das Fahrtenbuch macht. Wie sie Zug fährt, wie sie ins Kanzleramt geht. Es sind lange Tage, lange Fahrten, lange Sitzungen. "Ich bin irgendwie immer auf Arbeit", sagt Kraft. Es ist eine gefilmte Rechtfertigung.
Auf Menschen, die Hannelore Kraft in den vergangenen Monaten begegneten, hat sie oft einen seltsamen Eindruck gemacht. Dünnhäutig sei sie gewesen. Wütend fast, und müde. "Ich brauch das alles nicht", ist so ein Satz, den einige gehört haben. Das ging schon ein paar Monate so, für alle sichtbar wurde es nach den Ereignissen der Silvesternacht von Köln. Zehn Tage brauchte Kraft für einen öffentlichen Auftritt.
Nach Köln sagte sie lange erst einmal nichts
Dabei war das große Kümmern doch der Ich-Kern der Ministerpräsidentin, persönlich und politisch. Sie trauerte mit den Opfern der Loveparade auf eine Art, von der viele Hinterbliebene nachher sagten, dass es ihnen sehr geholfen habe. Sie trauerte mit denen, die beim Absturz der Germanwings-Maschine Angehörige verloren hatten. Sie trauerte mit den Kumpeln, die ihre Zeche verlieren. Sie umarmte das halbe Land, die große Landesmutter.
Nach Köln sagte sie lange erst einmal gar nichts. Während sich doch die ganze Welt äußerte. Weil sie das alles nicht brauche? "Diejenigen, die regieren, müssen auf einer Sachgrundlage agieren", sagt Kraft selbst. Fakten brauchten eben Zeit. Doch der Eindruck, der entstand, war der einer zögerlichen, gleichgültigen Ministerpräsidentin. Er führte zu den Filmchen, die man sich nun im Netz angucken kann.
Es ist eine Art Ruhrgebietsroadmovie, mit Ausflügen nach Berlin. Es gibt viel von der guten alten Ich-sach-ma-Hannelore, die sagt: "Ich hoffe, dass wir jetzt ordentlich was zwischen die Zähne kriegen." Es gibt aber auch Momente, die zu der Frage führen, ob etwas mit Hannelore Kraft passiert ist in den vergangenen Monaten. Als ob sie die Frage hört, sagt Hannelore Kraft im Video: "Es gibt keine schönere Tätigkeit, die ich mir vorstellen kann, auch wenn ich manchmal tief verzweifelt bin. Beides gehört zusammen." Es ist ein schöner und ein ehrlicher Satz. Verzweiflung, sagt Kraft, empfinde sie, weil sie immer mehr begreife, wie die großen Unglücke nachwirken. Je länger sie in der Politik sei. Wie Bilder die Opfer nicht loslassen, genauso wenig wie die Öffentlichkeit. Man weiß, was da kommt, schon ganz am Anfang.
Das führt zu der Frage, warum sie eigentlich noch einmal antreten will 2017. Wenn man Hannelore Kraft begegnet in diesen Tagen, dann sieht man viel Befindlichkeit, aber wenig Politik.
Ende Januar im Landtag, Kraft fährt abwärts. Der Aufzug ist voll, irgendjemand hat den falschen Knopf gedrückt. Kraft hat Aktenmappen und ein Tablet in der Hand, in einer Minute ist es zehn Uhr und die aktuelle Stunde im Landtag beginnt. Thema: Fernsehdebatten mit der AfD - und warum sie, die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, nicht an ihnen teilnehmen will. "Ich bin eh nicht als Erste dran", sagt Kraft. Die Tür öffnet und schließt sich wieder. "Ebene drei, alle raus", sagt endlich ein Mann - "also alle, die wollen." Kraft wirft ihm einen Blick zu. "Wollen ist gut", sagt sie.
An diesem Vormittag wird sich Kraft verteidigen müssen. CDU und FDP werfen ihr vor, sie bereite den Rechtspopulisten den Boden. Sie werden wieder über die Kölner Überfälle in der Silvesternacht reden wollen, werden Kraft fragen, warum sie nach Silvester in eine Talkshow ging, statt mit den Menschen in Köln oder dem Parlament in Düsseldorf zu sprechen. Hannelore Kraft, einst gehandelt als nächste SPD-Kanzlerin, ist in der Defensive.
Sie wolle politisch handeln und nicht in den Ledersesseln der Politsendungen sitzen, antwortet sie den Abgeordneten. Bloß die Vorschläge, die sie in diesen aufgeregten Tagen in der Sicherheits- und Flüchtlingsdebatte zu bieten hat, liegen oft gar nicht in ihrer Handlungskompetenz. Kraft sinniert über Wohnsitzauflagen für Flüchtlinge, über die schleppende Arbeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge oder darüber, wie Asylbewerber aus Marokko eigentlich im Bundesgebiet verteilt werden. Bundesprobleme, bei denen sie als Ministerpräsidentin viel fordern, aber wenig entscheiden kann.
Kraft ist das Gespür abhanden gekommen
Dass sich daran etwas ändert, hat sie selbst vor zwei Jahren ausgeschlossen: "Nie, nie" wolle sie Kanzlerin werden, sagte sie ihren NRW-Genossen. Es war eine klare Ansage damals. Aber auch der Beginn einer Art Selbstverzwergung, der Rückzug in die Provinz. Nordrhein-Westfalen hat die Koordinierung der SPD-geführten Bundesländer freiwillig abgegeben. Berlin, das ist alles ganz bäh für sie. Verlogen und aufgeblasen. Schön ist: Jeden Sommer zelten und das Sportabzeichen machen. Das erde sie, sagt Kraft.
Aber irgendetwas hat zuletzt nicht ganz geklappt mit der Erdung. Kraft ist bisweilen ihr Gespür abhanden gekommen. Schon 2014, nach einem Orkan mit Toten über Münster, gab es kein Wort der großen Trösterin. Sie sei eine Woche in Brandenburg auf einem Boot gewesen, Funkloch. Pech.
Nach den Kölner Überfällen auf Frauen fuhr sie nicht zu den Opfern, stellte sich nicht auf die Domplatte und hielt keine Rede gegen Gewalt. "Das muss man aushalten, dass man Dinge manchmal erst klären muss", sagt sie.
Wenige Wochen später hatten in Essen drei SPD-Ortsvereine mit zweifelhaften Sprüchen zu einer Demo gegen neue Flüchtlingsheime in der Nordstadt eingeladen. "Genug ist genug. Der Norden ist voll" - das klang nach: Das Boot ist voll. Nach Pegida. Hier meldete sich Kraft umgehend zu Wort. Doch sie rief die Genossen nicht an. Sie äußerte sich per Twitter: "Das schadet dem Ansehen der SPD insgesamt", tadelte sie.
Danach hörten die Nordstädter fast drei Wochen nichts von ihr, obwohl dieser Teil von Essen früher sogar Teil von Krafts eigenem Wahlkreis war. "Ihr ging es nur darum, die Sache ruhig zu kriegen", sagte der stellvertretende Vorsitzende des Ortsverbands Altenessen, Sebastian Nierfeld. Integrationsschwierigkeiten und Arbeitslose passten der Ministerpräsidentin wohl nicht ins Bild.
Dann, am vergangenen Mittwoch, kam sie doch. Und tat endlich, was sie am besten kann: zuhören, nicken, Verständnis zeigen. Das Gespräch sei "super gelaufen", sagt hinterher Stephan Duda, einer der Initiatoren der Demo. An schlecht verteilten Flüchtlingsheimen, das sei ihm nun ganz klar, sei der CDU-Bürgermeister schuld - und nicht die SPD-Vorsitzende.
Hannelore Kraft sitzt am nächsten Morgen in ihrem Wahlkreisbüro in Mülheim an der Ruhr, 30 Autominuten entfernt, und sagt, das Gespräch sei sehr emotional gewesen. Mit Gefühlen kann sie. Kraft hat begonnen, sich in ihr Land zurückzumenscheln. Heute wird sie den Tag in Mülheim verbringen statt in Sitzungen, sie will echte Bürger treffen, eine Firma besuchen. Mit Kamera, natürlich.
"Der Ton ist rau, die Stimmung mies", sagt ein SPD-Insider. Aber warum?
Anfang vergangenen Jahres hatte sich Kraft einmal mit einem Kunstherz der Uni Aachen an das Rednerpult des Landtages gestellt und eine digitale Offensive verkündet mit dem Slogan: MegaBits, MegaHerz, MegaStark. Die Lacher über den Slogan hört man heute noch oft im Landtag, von der Offensive hört man dagegen schon lange nichts mehr. Das Flüchtlingsthema habe alles andere völlig überdeckt, sagt Kraft, ebenso wie die Kölner Silvesternacht. Die Debatte sei aufgeheizt, Gerüchte kursierten, es sei schwer geworden, die Bürger zu informieren. "Das bekümmert mich schon", sagt sie. Aus der Kümmererin ist oft eine Bekümmerte geworden.
Als Kraft 2010 Ministerpräsidentin wurde, sprach sie gern davon, dass sie und Sylvia Löhrmann, ihre Stellvertreterin von den Grünen, auf eine andere Art Politik machen, nicht so machtbewusst und testosterongesteuert wie die Vorgänger.
In der Staatskanzlei ist von diesem neuen Ansatz nicht immer viel zu spüren. In Krafts Behörde gibt es ein klares Freund-Feind-Schema, ihr Pressesprecher Thomas Breustedt bekomme in Telefonkonferenzen regelmäßig Schreianfälle, berichten Teilnehmer.
Kritische Köpfe wie der Kölner Martin Börschel werden nichts in der Fraktion, Kraft setzt auf Betonsozialdemokraten wie ihren Fraktionschef Norbert Römer, der noch vor nicht allzu langer Zeit noch neue Zechen gefordert hatte. "Inhaltlich gibt es keine Erneuerung", sagt einer der Führenden aus der SPD. "Der Ton ist rau, die Stimmung mies." Aber warum eigentlich? Die Krise der Hannelore Kraft ist eine, die von innen nach außen geht. Zuerst war die Befindlichkeitskrise, so langsam wird eine der Regierung daraus.
Müde, gar amtsmüde, sei sie nicht. Eine Erfindung der Opposition, sagt Kraft. "Nachdenklich" sei sie schon. Sie sorge sich um die Demokratie in diesem Land, in dem die Menschen abends nicht mehr die Tagesschau einschalten, sondern Filme und Bilder mit dem Handy empfangen. In dem Bürger keine Zeitungen mehr lesen und wenn, dann nur die Überschriften. Wo ihre Botschaften nicht mehr durchdringen, weil sie kompliziert sind und länger als ein Tweet. "Das macht Politik nicht einfacher", sagt sie und klingt, als habe sie eine Ahnung, was da kommt, und könne doch nicht viel daran ändern. Außer, indem sie Akten auf ihrer Rückbank filmt.