Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen:Herr Erdoğan und die Wahl im Westen

Schock und Angst auch bei Türken in NRW

Die Keupstraße im Kölner Stadtteil Mülheim ist ein Zentrum türkischen Lebens in Nordrhein-Westfalen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Hunderttausende Menschen mit türkischen Wurzeln könnten die Wahl in NRW mitentscheiden. Im Wahlkampf aber wurden sie kaum angesprochen - stattdessen sprach man lieber über sie.

Von Deniz Aykanat und Benedikt Peters, Mönchengladbach

Vor dem Clubhaus von Türkiyemspor herrscht am Abend kollektives Achselzucken. Klar, sagen die Leute hier, sie haben von der Wahl am Sonntag gehört. Aber viele wissen noch nicht so richtig, ob sie hingehen sollen. Warum nicht? "Zu viel Hass in letzter Zeit", sagt einer. Türkiyemspor ist der türkische Fußballklub von Mönchengladbach.

Die Leute, die hier abends Fußball spielen, arbeiten tagsüber als Versicherungsvertreter, als Busfahrer oder Bauarbeiter. Manche studieren. Fast alle haben türkische Wurzeln. Wenn es um Politik geht, wollen sie ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Aber was sie sagen, ist trotzdem wichtig.

Kommenden Sonntag wählt Nordrhein-Westfalen einen neuen Landtag. Bei aller gebotenen Skepsis für Prognosen deuten die Umfragen darauf hin, dass es knapp werden könnte zwischen SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und ihrem CDU-Herausforderer Armin Laschet. Mal sehen die Demoskopen die Sozialdemokraten leicht vorn, mal sind beide Parteien gleichauf. Von den knapp 18 Millionen Einwohnern in NRW haben dem Statistischen Bundesamt zufolge etwa 950 000 Menschen türkische Wurzeln, also mehr als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung von NRW.

201 000 von ihnen haben einen deutschen Pass und sind über 18, können am 14. Mai also abstimmen. Das sind 1,5 Prozent aller Wahlberechtigten. Wenn es so knapp für SPD und CDU wird, wie die Umfragen es gerade vorhersagen, dann zählt jeder zehntel Prozentpunkt. Hinzu kommt, dass auch die türkischen Einwohner ohne Wahlrecht für Nordrhein-Westfalen wichtig sind, allein durch ihre große Zahl. Städte wie Essen, Duisburg und Dortmund sind stark geprägt durch die Deutschtürken.

Deutschtürken wurden im Wahlkampf kaum angesprochen - eher sprach man über sie

Umso erstaunlicher ist es, dass sie in den Wahlkampfkonzepten der NRW-Parteien keine große Rolle gespielt haben. Die Frage, inwieweit sie sich im Wahlkampf mit dieser Gruppe befasst haben, beantworten die Parteien ungewöhnlich spärlich. Die Grünen erklären, sie hätten auf Facebook einen Wahlkampfaufruf mit lachenden Kindern in türkischer Sprache gepostet. Die SPD verteilt In einigen Wahlkreisen türkischsprachige Flugblätter, erzählt ein Abgeordneter. Die FDP antwortet: "Wir richten unseren Wahlkampf auf alle freiheitsliebenden Menschen aus." CDU und AfD ließen die Anfage unbeantwortet. Auf Plakaten versuchten sie, statt Deutschtürken vor allem Russlanddeutsche anzusprechen.

In gewisser Hinsicht waren die Türkeistämmigen im Wahlkampf aber doch immer präsent. Nachdem Mitte April 63 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland beim Verfassungsreferendum in der Türkei mit "Ja" und damit für einen Machtausbau des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gestimmt hatten, ging ein Aufschrei durch die Bundesrepublik. In einigen Großstädten im Ruhrgebiet, zum Beispiel in Essen, war die Zustimmung für die entsprechende Verfassungsänderung besonders hoch. Die anschließende Integrationsdebatte spielte daher zu einem großen Teil in Nordrhein-Westfalen.

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sprach von einer "Belastung des Integrationsprozesses". Ihr Herausforderer Armin Laschet wertete das Ergebnis als Beleg dafür, dass die hier lebenden Türken ohne deutschen Pass auf keinen Fall das kommunale Wahlrecht bekommen sollten. Und der derzeit viel in Nordrhein-Westfalen herumreisende SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sagte, wenn Erdoğan nun auch noch über die Todesstrafe abstimmen wolle, dürften die Türken in Deutschland dabei auf keinen Fall mitmachen. Moderatere Töne hingegen drangen in der Debatte kaum durch.

Deutschtürkische Wähler neigen traditionell zur SPD

Vor dem Clubhaus von Türkiyemspor bekommt man den Eindruck, dass die Debatte nicht unbedingt gutgetan hat. Das Diskussionsklima ist den Menschen hier in letzter Zeit zu aufgeheizt. Nicht alle befürworten Erdoğans Politik, aber in einem sind sie sich doch einig: "Deutsche Medien und Politiker sehen nur die negativen Seiten." So sagt es einer ins kollektive Nicken. Dabei habe Erdoğan auch gute Sachen gemacht: "Er hat das Gesundheitssystem und die Infrastruktur verbessert. Und er hat die Wirtschaft repariert." Es fehle jemand, der sich hinstelle und auch mal das sage.

Der türkeistämmige Grünen-Landtagsabgeordnete Ali Baş sieht eine ähnliche Entwicklung. Bei aller Kritik an Erdoğans Politik befürchtet er, dass die starke Polarisierung in der Debatte um das türkische Verfassungsreferendum dazu führen könnte, dass manche türkeistämmige Wähler für die etablierten Parteien nicht mehr erreichbar sind.

Dazu passt, dass sich nach der Armenier-Resolution des Bundestags eine neue Kleinpartei gründete, die "Allianz Deutscher Demokraten". Ähnlich wie das 2010 gegründete "Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit" soll sie türkeistämmige Wähler ansprechen, beide Parteien gelten als Erdoğan-nah. Ihre Strategie ist, ähnlich der AfD, auf Polarisierung ausgerichtet. Spannend wird nun, welchen Zulauf diese Parteien bei der Landtagswahl bekommen.

Normalerweise kann die SPD türkeistämmige Wähler für sich verbuchen. Das Essener Zentrum für Türkeistudien hat 2015 ermittelt, dass 65 Prozent von ihnen bei der nächsten NRW-Landtagswahl die Sozialdemokraten wählen würden. Der Essener Forscher Caner Aver hält es für möglich, dass dies auch trotz der heftigen Diskussionen um Erdoğans Verfassungsreferendum weitgehend so bleiben könnte - weil die türkischen Wähler beide Abstimmungen gedanklich voneinander trennen.

"Das eine ist eine pragmatische Wahl und das andere eine emotionale", sagt Aver. "In NRW fühlen sie sich eher von der weltoffenen, liberalen SPD vertreten, weil die für sie alltagsrelevant ist. Die SPD tritt für die Sicherung ihrer Rechte ein. Also zum Beispiel Muttersprache-Unterricht in der Schule, Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit oder Verbesserung der Bildungschancen."

Nur fünf der 237 NRW-Abgeordneten haben türkischen Migrationshintergrund

Wenn es um die Türkei geht, wird es allerdings emotional. "Nicht nur die in NRW lebenden Türken neigen dazu, ihre alte Heimat zu idealisieren. Sie sind von der Politik in der Türkei nicht direkt betroffen, konservative Kreise wählen dann auch aus Trotz Erdoğan und seine AKP." Aus Zurückweisung und Wut darüber, in der deutschen Politik kein Gehör und keine Anerkennung zu finden, sich in Deutschland immer noch als Bürger zweiter Klasse zu fühlen, wenden sie sich dem "starken Mann" in der Türkei zu, obwohl dessen Politik ihren Alltag gar nicht berührt.

Dieses gespaltene Verhältnis zur Politik wird von deutschen Politikern oft beklagt - aber kaum jemand scheint etwas dagegen zu tun, im Gegenteil. Für verfehlt hält Aver in diesem Zusammenhang die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft. Hätte Erdoğan in NRW weniger Anhänger, wenn die Türkeistämmigen dort seltener die doppelte oder nur die deutsche Staatsbürgerschaft hätten? Aver sieht darin keinen Garanten für eine gelungene Integration. "Das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland steigt zwar mit dem deutschen Pass, aber die Frage der Identität und Zugehörigkeit hängt nicht nur mit der Passzugehörigkeit zusammen", erklärt Aver.

"Es gibt auch formal gut integrierte Menschen, die hier Schule und Ausbildung absolviert und einen Job haben, die beim Referendum in der Türkei trotzdem mit Ja gestimmt haben." Den Grad der Integration allein an dieser Abstimmung, allein an Erdoğan festzumachen, greife viel zu kurz. "Viel wichtiger ist eine offene und ehrliche Debatte um Einwanderung, Identitäten und eine Leitbilddiskussion, die alle Menschen einschließt. Die jetzige Debatte aber um den Doppelpass öffnet Türen, die ins Leere führen", sagt Aver.

Die Spieler von Türkiyemspor haben einen anderen Vorschlag. "Es wäre doch gut, wenn man im öffentlichen Leben mehr Leute mit Migrationshintergrund sehen würde", sagt einer, der hier im Sturm spielt. "Auf den Ämtern und bei der Polizei zum Beispiel. Und auch in der Politik."

Fast eine Million Türkeistämmige leben in NRW, etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Landtag in Düsseldorf haben derzeit nur fünf der 237 Abgeordneten einen türkische Migrationshintergrund.

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