Lutz Hachmeister, 58, war von 1989 bis 1995 Direktor des Adolf-Grimme-Instituts und 2004 selbst Preisträger. Der Kommunikationswissenschaftler ist Autor zahlreicher Bücher und filmischer Dokumentationen. Sein ARD-Film "Hannover-Komplex" hatte 1,3 Millionen Zuschauer, daraus entstand sein Buch " Hannover. Ein deutsches Machtzentrum". Seit 2005 ist er Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM) in Köln.
SZ: Herr Hachmeister, zunächst muss ich gestehen, dass ich gebürtiger Hannoveraner bin. Als ich meiner Tochter Ihr Buch zeigte, bekam sie einen Lachanfall und sagte "Nichts ist doofer als Hannover". Ist das eine normale Reaktion?
Hachmeister: (lacht) Natürlich ist die Stadt für viele ein Synonym für provinzielle Mittelmäßigkeit. Man hat aber in Hannover selbst ein Underdog-Bewusstsein - und ist stolz, wenn man über politische Grenzen hinweg Bedeutung verspürt. Es gibt eine nicht von der Hand zu weisende empirische Grundlage für meine These, dass die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem gewichtigen deutschen Machtzentrum wurde.
Sind die Niedersachsen die "Sizilianer des Nordens"?
Verglichen mit dem roten Filz in NRW ist die "Hannover-Connection" ein Kindergeburtstag. Alles ist ineinander und miteinander verwebt und verklebt, aber bei weitem nicht auf einem Niveau, dass man das außerhalb von Hannover wirklich ernst nehmen könnte.
Weil und Althusmann:Niedersachsen erlebt einen rauen Wahlkampf
SPD-Ministerpräsident Weil und CDU-Herausforderer Althusmann greifen sich scharf an - und profitieren jeweils davon. Die Koalitionssuche dürfte dagegen schwierig werden.
Sie selbst sind in Minden in Ostwestfalen geboren. Woher kam Ihr Interesse an Niedersachsens Hauptstadt?
Ursprünglich wollte ich einen biografischen Film über Christian Wulff und die Nachwirkungen der Affäre machen. Doch er entschied sich gegen eine Mitarbeit und ein Nebenaspekt fand mein Interesse: Die Abfolge der Machtkonstellationen in Niedersachsen seit 1945. Eigentlich spielt das Land erst 1976 mit der Wahl von Ernst Albrecht zum Ministerpräsidenten eine wichtige überregionale Rolle. Seine Vorgänger waren alles honorige Männer, aber bundespolitisch waren sie eigentlich wirkungslos. Erst mit Albrecht fingen diese Aspirationen an - und endeten vorerst mit Christian Wulff.
Sie schreiben in Ihrem Buch über "Hannoveranismus". Was meinen Sie damit?
Einen trinkfesten Männerbund - und eine pragmatische SPD-Mitte mit einem beinharten Zentrismus, in dem dezidierte Linke keine Chance haben. Die Hannoveraner hatten noch bis vor Kurzem und haben noch immer großen Einfluss in der Bundes-SPD: Frank-Walter Steinmeier ist Bundespräsident, Hubertus Heil nochmals Generalsekretär, Sigmar Gabriel seit der Rochade am Jahresanfang amtierender Außenminister - und Thomas Oppermann war bis zur Wahl Fraktionschef. Zum Schaden von Martin Schulz zogen die Hannoveraner noch bis in die zweite Reihe die Fäden. Der jetzige SPD-Chef hat sich ja auch mehrfach darüber beschwert, dass er ins Willy-Brandt-Haus nicht genug eigene Leute mitbringen konnte.
Blicken wir zur Wahl in Niedersachsen: Der Wechsel der grünen Landtagsabgeordneten Elke Twesten hat zu vorgezogenen Neuwahlen geführt ...
... das ist eine niedersächsische Spezialität und gab es auch aus anderen Parteien bereits unter Ernst Albrecht.
Hat sich die CDU damit einen Gefallen getan?
Das war von den Christdemokraten nicht richtig durchkalkuliert. Außerdem haben sie nicht mit der schnellen Reaktion von Weil gerechnet, gleich nach der Bundestagswahl Neuwahlen im Land auszurufen.
Der eher spröde, biedere Ministerpräsident Stephan Weil gilt plötzlich als neue Hoffnung der SPD. Wie kann das sein?
Das hat viel mehr mit dem Zustand der SPD zu tun als mit Weil. Wenn man kein satisfaktionsfähiges Personal mehr hat und es jahrelang verhinderte, dass junge Leute in der Partei Karriere machen konnten, dann muss man sich nicht wundern, wenn Weil nun der neue Hoffnungsträger ist. Der mag persönlich ein netter Kerl sein, aber wenn man ihm zuhört, fühlt man keinen großen politischen Enthusiasmus.
Haben Sie eine Erklärung für den Aufwärtstrend der SPD, die im August noch weit abgeschlagen hinter der CDU lag?
Das ist der übliche Schwung nach einer Bundestagswahl. Ich will nicht Mitleidseffekt sagen, aber zumeist profitiert der Verlierer der Bundestagswahl bei der darauffolgenden Landtagswahl - auch weil man nicht eine zu starke Machtkonzentration bei der im Bund regierenden Partei sehen will. Außerdem hat Weil eine paar Skandale ganz gut gemanagt. Den Umfragen zufolge kann es der Amtsinhaber ja sogar schaffen oder zumindest einen achtbaren Erfolg erzielen. Würde er direkt gewählt werden, würde er laut Umfragen Althusmann klar schlagen.
Es könnte in Hannover rechnerisch voraussichtlich auch eine Jamaika-Koalition unter Führung der CDU geben.
Ich glaube, dass es auch CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann völlig egal ist, welche Koalition er bildet, solange er nur Regierungschef wird. Ich bin auch davon überzeugt, dass er auch eine große Koalition eingehen würde, wenn die CDU auch nur eine hauchdünne Stimmenmehrheit gegenüber der SPD erzielen würde.
Wird das erste Mal Rot-Rot-Grün in einem westlichen Bundesland möglich?
TV-Duell der Spitzenkandidaten in Niedersachsen:"Sie glauben selbst nicht an die Ängste, die Sie schüren"
Im TV-Duell kurz vor der Wahl in Niedersachsen greift CDU-Herausforderer Althusmann an - und verfängt sich im süffisanten Lächeln von SPD-Ministerpräsident Weil.
Inzwischen ist die SPD so verzweifelt, dass sie alles machen würden. Sie ist auch gar nicht mehr dazu in der Lage, Planspiele durchzuführen, die nicht alle Optionen offen lässt. Die SPD ist so weidwund, dass sie bei einem weiteren Tiefschlag im Bund vor der strukturellen Auflösung stehen würde. Entweder gelingt es der SPD bis zur nächsten Bundestagswahl, sich zu enthannoveranisieren - oder sie wird umgegründet.
In Hessen führten so rot-rot-grüne Vorstöße 2008 noch zum Rücktritt der SPD-Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti. Warum sollte das jetzt in so einem strukturkonservativen Land wie Niedersachsen möglich sein?
In Hessen verfing sich die Rote-Socken-Kampagne noch einmal und das rot-grüne Experiment mit Joschka Fischer und Holger Börner scheiterte einst dort auch ziemlich schnell. Aber in Niedersachsen gab es von 1990 bis 1994 mit Gerhard Schröder und Jürgen Trittin die erste funktionierende rot-grüne Regierung in Deutschland. Das war das große Vorbild für die Machtübernahme im Bund 1998, teilweise mit dem gleichen Personal. Die beiden Parteien deckten ein breites Spektrum von konservativen Sozialdemokraten bis zu AKW-Gegnern ab und hatten sich bewusst für verschiedene Rollen entschieden: Die Grünen gaben sich ein bisschen linker als sonst - und die SPD rückte mehr in die Mitte. Das war ein Rollenmodell, das es heute auch mit den - in Niedersachsen sowieso sehr pragmatischen - Linken so geben könnte. Zudem unterscheiden sich viele der Linken-Positionen nicht mehr von denen der SPD.
Weshalb kann die AfD in Niedersachsen nicht richtig Fuß fassen - zumindest im Gegensatz zu anderen Regionen?
Das spricht für eine stabile Struktur der alteingesessenen Parteien. Die Klientel ist unter SPD, CDU, Grünen, FDP gut aufgeteilt, auch konfessionell und von den Professionen her. Das Land hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr zivilisiert.