Landtagswahlen während der Pandemie:Wie Corona die 18-Uhr-Prognose beeinflusst

Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nutzen diesmal besonders viele die Briefwahl. Das wird sich auf Prognosen und die ersten Hochrechnungen auswirken.

Von Markus C. Schulte von Drach

Am Wahltag gibt es immer diesen einen Augenblick, der mit größter Spannung erwartet wird: 18 Uhr, die Wahllokale schließen, und in den Medien werden die ersten Prognosen zum Ergebnis der Abstimmung vorgestellt.

Zwar ändern sich die Balken in den Diagrammen der Wahlforschungsinstitute im Verlauf des Abends noch, vor allem wenn auf die Prognosen die Hochrechnungen folgen. Doch selbst die ersten Voraussagen zum Wahlergebnis sind inzwischen sehr genau - sie liegen meist nur noch bei Abweichungen von weniger als einem Prozentpunkt zum offiziellen Ergebnis, was aus Sicht der Fachleute außerordentlich niedrig ist.

Nicht immer, aber häufig können die Parteien und ihre Kandidaten deshalb nach der 18-Uhr-Prognose schon die Sektkorken knallen lassen, anderen bleibt nur noch, sich bei allen Wahlkampfhelferinnen und -helfern für den großartigen Einsatz zu bedanken.

Die Prognosen zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz allerdings sollten etwas zurückhaltender aufgenommen werden als sonst. Ursache ist, wie derzeit für so vieles, das Coronavirus. Oder, genauer: die Entscheidung vieler Menschen, dieses Mal auf dem Postweg zu wählen, um wegen des Infektionsrisikos den Kontakt mit anderen gering zu halten. Die hohe Zahl an Briefwählern wird sich auf die Prognosen und ersten Hochrechnungen auswirken.

Zwar lässt sich seit Jahren eine steigende Neigung der Deutschen zur Briefwahl beobachten. Bei der Bundestagswahl 2017 nutzten schon 28 Prozent der Wählerinnen und Wähler diese Möglichkeit. In Baden-Württemberg waren es bei der vergangenen Landtagswahl 21 Prozent, in Rheinland-Pfalz sogar knapp 31 Prozent.

Für diesen Wahlsonntag aber wird erwartet, dass mancherorts sogar bis zur Hälfte der Stimmen aus der Briefwahl stammen werden. Das gilt zumindest für größere Städte, wo schon in der Vergangenheit mehr Menschen auf diesem Wege gewählt haben als auf dem Land. In Stuttgart etwa meldete das Statistikamt jüngst, man rechne mit bis zu 140 000 Briefwahlanträgen. Wahlberechtigt sind hier insgesamt etwa 370 000 Bürgerinnen und Bürger, von denen aber sicher nicht alle ihre Stimme abgeben werden.

Diese Entwicklung stellt die Wahlforscher vor ein Problem. Denn die 18-Uhr-Prognosen beruhen auf den Ergebnissen der Wahltagsbefragungen, den sogenannten Exit Polls. Für diese werden Wählerinnen und Wähler unmittelbar nach der Stimmabgabe vor dem Wahllokal anonym zu ihrer Entscheidung befragt. "Wenn diesmal deutlich mehr Menschen mit Briefwahl abstimmen, bilden diese Befragungen einen kleineren Teil der Wählerinnen und Wähler ab, als es unter anderen Bedingungen als der Corona-Pandemie der Fall wäre", sagt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen.

Wer geht noch ins Wahllokal?

Für frühere Wahlen haben die Fachleute die langfristig zunehmende Tendenz zur Briefwahl für die Erstellung der 18-Uhr-Prognose bereits berücksichtigt. Allerdings "war hier kein Zusammenhang der Briefwähler und der Güte der Prognose erkennbar", sagt Michael Kunert vom Umfrageinstitut Infratest Dimap. "Ob dies auch bei den kommenden Wahlen so sein wird, kann man letztlich erst nach Vorliegen der Ergebnisse beurteilen." Um ihre Modelle aber an die neue Situation anzupassen, setzen die Wahlforscher darauf, Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Umfragen noch kurz vor der Wahl nicht nur danach zu fragen, wen, sondern auch wie sie wählen wollen.

Zu dem Problem der kleineren Datengrundlage der Exit Polls aufgrund der Briefwahl kommt ein weiterer Faktor hinzu, der die Prognose erschwert: Anhänger verschiedener Parteien zeigen eine unterschiedlich starke Präferenz zur Briefwahl, wie aus Studien hervorgeht. So ist etwa der Anteil der Stimmen für die Grünen unter Briefwählerinnen und -wählern größer als unter denen, die im Wahllokal ihr Kreuz machen. Und die Wähler der Unionsparteien sind zum großen Teil ältere Menschen, die häufiger als jüngere aufgrund ihrer geringeren Mobilität von zu Hause aus wählen. Für die AfD und andere rechte Parteien dagegen wird verhältnismäßig seltener mit Briefwahl gestimmt. Zugleich neigen ihre Anhänger zu einer größeren Skepsis gegenüber dem Infektionsrisiko - und damit auch dem Risiko, das der Besuch des Wahllokals bedeutet.

Die SPD, die bei Stimmabgabe daheim erfahrungsgemäß ebenfalls etwas schlechter abschneidet als im Wahllokal, ruft in Rheinland-Pfalz trotzdem zur Briefwahl auf, während die AfD das Misstrauen gegen diese Wahlmöglichkeit zu schüren versucht. Alles das könnte die Auswertung der Exit Polls weiter erschweren: Der Anteil der Wähler rechter Parteien, die diesmal in den Wahllokalen auftauchen, könnte im Vergleich zu früheren Wahlen relativ groß sein.

Die Arbeit der Wahlforscher wird darüber hinaus auch unmittelbar vor den Wahllokalen durch das Virus erschwert. Mehr als 80 Prozent derjenigen Wählerinnen und Wähler, die dort nach ihrer Entscheidung gefragt werden, zeigen sich sonst bereit, Auskunft zu geben. "Der Anteil könnte diesmal geringer werden, weil die Menschen wegen der Ansteckungsgefahr auf Distanz bleiben wollen", vermutet Jung. Sein Team hat deshalb extra ein Hygienekonzept entwickelt. Doch trotz des großen Aufwandes, den die Expertinnen und Experten betreiben, rechnet er mit einer geringeren Teilnahmebereitschaft als sonst.

Die Fachleute sind allerdings nicht nur gezwungen, den hohen Briefwahlanteil für die 18-Uhr-Resultate zu berücksichtigen. Für die ersten Hochrechnungen müssen die gleichen Überlegungen angestellt werden wie für die Prognosen, erklärt Jung. Die Hochrechnungen beruhen zwar auf ausgezählten Stimmen, die nach und nach offiziell gemeldet werden. Aber etwa in den ersten zwei Stunden können die Wahlforschungsinstitute nur auf die einlaufenden Daten der "Urnenwahl"-Stimmbezirke zurückgreifen. Die Zahlen aus den Briefwahlbezirken treffen erst etwas später nach und nach ein. Bei den ersten Hochrechnungen ist die Unsicherheit in der Datengrundlage deshalb diesmal ebenfalls etwas größer als sonst.

Wenn es für die Parteien knapp wird - an der Fünf-Prozent-Hürde oder im Koalitionsrechner -, sollte deshalb nicht zu früh gejubelt oder verzweifelt werden. Jung rechnet damit, dass erst drei bis vier Stunden nach Schließung der Wahllokale Hochrechnungen zu erwarten sind, für die die Briefwahlen ausreichend berücksichtigt werden können.

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