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Landtag - Wiesbaden:Hanau: Experte sieht mangelnde Fehlerkultur bei Polizei

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Wiesbaden (dpa/lhe) - Im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zum rassistischen Anschlag von Hanau hat ein Sachverständiger für eine unabhängige und transparente Aufarbeitung des Polizeieinsatzes plädiert. Dabei sollte sich die Polizei der Hilfe externer Experten bedienen und auch mit Hinterbliebenen und Überlebenden ins Gespräch kommen, empfahl der Jurist, Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes am Freitag in einer Anhörung des Gremiums in Wiesbaden.

Am Ende könne so eine klare Liste erstellt werden, die benenne, wo Fehler gemacht worden seien und wo nicht. "Das wäre ein Ernstnehmen der Opfer, damit würde auch eine gesellschaftliche Befriedung hergestellt", sagte Feltes.

Als Sachverständiger wurde er vor dem Ausschuss zur Einsatzlage und -taktik am Tatabend sowie zum Krisenmanagement befragt. Dabei verwies Feltes darauf, dass er keine vollständige Einsicht in Ermittlungs- und weitere Akten gehabt habe, sondern sich im Wesentlichen auf die Pressemitteilungen der Hanauer Staatsanwaltschaft stütze. Diese hatte Ermittlungsverfahren gegen Polizisten unter anderem wegen des Vorwurfs der unterlassenen Hilfeleistung sowie wegen des am Tatabend überlasteten Hanauer Polizei-Notrufs abgelehnt. Zudem hatte die Behörde Ermittlungen wegen eines angeblich bewusst verschlossenen Notausgangs an einem der Tatorte eingestellt.

Der 43-jährige Deutsche Tobias R. hatte am 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet. Danach tötete er seine Mutter und nahm sich selbst das Leben. Der Untersuchungsausschuss befasst sich vor allem mit der Frage, ob es vor, während und nach der Tat zu einem Behördenversagen kam.

Feltes bemängelte in seiner Anhörung Fehler während des Polizeieinsatzes im Umgang mit Betroffenen und Angehörigen des Anschlags. Hier habe es nach allem, was er über den Anschlag gelesen habe, an Sensibilität gefehlt, sagte der Experte. In solchen Einsatzlagen müsse auch immer vermieden werden, dass weitere Menschen zu Opfern werden, etwa durch das Verhalten der Polizei.

So dürften Beamte nicht darauf warten, dass etwa Notfallseelsorger sich um Angehörige kümmern, sondern müssten auch selbst tätig werden. Zudem fehlt es aus Sicht Feltes an einer Fehlerkultur und einem offeneren Umgang mit Fehlern bei der Polizei. Hier sei auch die Politik in der Verantwortung. Nötig sei überdies mehr Fortbildung für die Beamten. Es sei zudem nicht zu bestreiten, dass es Rassismus bei der Polizei gebe. Der Umgang damit lasse zu wünschen übrig.

Heike Hofmann, Obfrau der SPD-Fraktion in dem Ausschuss, pochte auf eine neue Fehlerkultur bei der Polizei: "Hessen braucht mehr Qualitätssicherung und gerade in solchen Einsatzlagen einen anderen Umgang mit Opfern."

Hinterbliebene hatten unter anderem kritisiert, dass sie erst nach stundenlangem Warten am Morgen nach der Tat über den Tod ihrer Angehörigen informiert wurden. Deren Namen seien von einer Liste verlesen worden. Auch hatten sie wiederholt beklagt, dass sie tagelang nicht wussten, wo sich die Leichen ihrer toten Angehörigen befinden und dass sie diese erst Tage nach der Tat sehen durften.

Ein solches Vorgehen sei "weder nachvollziehbar noch entschuldbar", stellte Feltes fest. Die Erfahrung zeige, dass in Fällen, bei denen - wie nach dem Hanauer Anschlag - der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich ziehe, bei der Polizei "alle Alarmglocken" schrillten, und eine "Mauer des Schweigens" entstehe, weil alle Beteiligten Angst davor hätten, Fehler zu machen, so der Sachverständige.

Am Freitag hörte das Gremium auch einen Psychiater zum Umfeld des Täters. Der Experte war im vergangenen Oktober als Gutachter im Prozess gegen den Vater des Attentäters wegen des Vorwurfs der Beleidigung in drei Fällen vor dem Amtsgericht Hanau eingesetzt. Während der Verhandlung hatte er dem Vater unter anderem eine "wahnhafte Störung" und ein rechtsextremes Gedankengut attestiert.

Der Mann war in dem Prozess zu einer Geldstrafe von 5400 Euro verurteilt worden. Weil sowohl er als auch die Staatsanwaltschaft dagegen Berufung einlegten, geht das Verfahren voraussichtlich im September in die nächste Instanz. Mit Blick darauf, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, wurde der Psychiater am Freitag in nichtöffentlicher Sitzung gehört.

Mitte Dezember hatte die Bundesanwaltschaft ihre Ermittlungen zu dem Anschlag eingestellt. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass Tobias R. allein handelte und keine Mitwisser gehabt habe. Auch für eine Tatbeteiligung seines Vaters hatten die Ermittler keine Anhaltspunkte gesehen.

© dpa-infocom, dpa:220317-99-563982/5

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