Landtag - Düsseldorf:Gedenken Solinger Anschlag: "Rassismus tödliche Realität"

Landtag - Düsseldorf: Ein Gedenkstein liegt am Ort des Anschlags vor 29 Jahren in der Untere Wernerstraße. Foto: Christoph Reichwein/dpa
Ein Gedenkstein liegt am Ort des Anschlags vor 29 Jahren in der Untere Wernerstraße. Foto: Christoph Reichwein/dpa (Foto: dpa)

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Düsseldorf (dpa) - Hülya Genç war neun, Hatice Genç 18, Gürsün Ince 27, Gülüstan Öztürk war zwölf, und Saime wurde nur vier Jahre alt: Mit einer Schweigeminute hat der nordrhein-westfälische Landtag am Freitag der Opfer des rechtsextremistischen Brandanschlags in Solingen vor 30 Jahren gedacht. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und die Fraktionsvorsitzenden von SPD, Grünen und FDP riefen gemeinsam dazu auf, Rechtsextremismus weiter entschieden zu bekämpfen. Zugleich dankten sie der Familie Genç für ihren Mut, nach dem unfassbaren Verbrechen in Deutschland geblieben zu sein und sich fortan für Versöhnung einzusetzen.

Bei dem Gedenken saßen Mitglieder der Familie Genç auf der Besuchertribüne im Plenarsaal - in ihrer Mitte Durmuş Genç, Ehemann der im vergangenen Oktober im Alter von 79 Jahren gestorbenen Mevlüde Genç. Die spätere Bundesverdienstkreuzträgerin hatte schon direkt nach dem Attentat zur Versöhnung aufgerufen und immer wieder gemahnt, dass dem Hass Einhalt geboten werden müsse.

Am 29. Mai 1993 hatten vier Rechtsradikale das Haus der türkischstämmigen Familie Genç in Solingen angezündet. Fünf Frauen und Mädchen starben. Viele weitere Familienmitglieder wurden teils schwer verletzt. Der Brandanschlag gilt als eines der schwersten rassistischen Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik.

Die Tat von Solingen habe eine ganze Familie "in unfassbarer Weise gezeichnet", sagte Wüst. Für die Familie Genç sei die furchtbare Nacht nie ganz vergangen, sie sei noch immer präsent. Der Mordanschlag von Solingen habe damals vielen und vor allem türkischstämmigen Menschen im ganzen Land große Angst gemacht. "Was muss das für ein Gefühl sein, wenn die eigene Wohnung, das eigene Haus, das Kinderbettchen kein sicherer Ort mehr ist?" Familie Genç sei damals trotzdem geblieben. Das sei mutig gewesen. "Danke lieber Herr Genç, danke liebe Familie Genç, dass sie geblieben sind", sagte Wüst.

Solingen sei kein Einzelfall gewesen, sagte Wüst und verwies auf rechtsextreme Anschläge bis in die jüngste Vergangenheit. "Rechtsextremismus ist die größte Gefahr für unsere Demokratie." Es beunruhige sehr, dass rassistische und rechtsextreme Propaganda und Straftaten zunähmen. "Dem müssen wir uns fortwährend entgegenstellen."

Am Montag, dem 30. Jahrestag des Brandanschlags, wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Solingen erwartet, begleitet von den Spitzen der nordrhein-westfälischen Landesregierung.

In seiner ersten Rede als frisch gewählter SPD-Landtagsfraktionschef und Oppositionsführer forderte Jochen Ott, Menschen mit Migrationsgeschichte besser zu schützen. "Rassismus und Rechtsextremismus sind tödliche Realität in Deutschland." Der gewalttätige Rechtsextremismus müsse die "Macht der wehrhaften Demokratie zu spüren bekommen". Der Geburtsort von Eltern dürfe nicht über die Bildungs- und Berufschancen eines Kindes entscheiden. "Der Klang eines Nachnamens darf nicht darüber entscheiden, wer die gute Wohnung bekommt, den günstigen Kredit oder die Beförderung", sagte der SPD-Politiker. Dass die doppelte Staatsbürgerschaft nun in Deutschland ermöglicht werde, bedeute einen Fortschritt.

Für die Grünen sagte Fraktionschefin Verena Schäffer, der Jahrestag müsse Anlass sein, über die "Kontinuität rechtsextremer Gewalt" in Deutschland zu sprechen. Über Rechtsextremismus könne auch "nicht losgelöst von Rassismus und menschenverachtenden Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft" diskutiert werden. Deshalb sei es wichtig, neben der Bekämpfung des Rechtsextremismus auch für wirksame Antidiskriminierungsstrukturen zu sorgen.

FDP-Fraktionschef Henning Höne sagte, alle müssten sich denen entgegenstellen, "die unsere offene Gesellschaft gefährden und als geistige Brandstifter tätig sind". Landtagspräsident André Kuper nannte die Anwesenheit der Familie Genç im Plenarsaal eine Verpflichtung: "Wir Demokratinnen und Demokraten werden immer Rassismus, Extremismus, Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit bekämpfen."

In einem gemeinsamen Antrag forderten die Fraktionen von CDU, Grünen, SPD und FDP, den Ermittlungsdruck gegen rechtsextremistische Straftaten weiterhin hoch zu halten. Die rechtsextreme Gewalt in den 1990er Jahren habe ihren Ausdruck auch in weiteren Brandanschlägen und Ausschreitungen in Hoyerswerda, Hünxe, Rostock-Lichtenhagen und Mölln gefunden. Diese Anschläge ebenso wie die Verbrechen des rechtsterroristischen NSU und die Anschläge von München, Kassel, Halle und Hanau in den vergangenen Jahren "machen deutlich, dass rechtsextremistische, rassistische und antisemitische Gewalt bittere Realität in Deutschland sind".

Für Misstöne sorgte die rechtspopulistische AfD im Landtag, die Änderungen des Antrags der anderen Fraktionen forderte. Denn der Antrag wende sich nicht nur gegen Rechtsextremismus, sondern auch gegen andere Formen von Diskriminierung, die damit gar nichts zu tun hätten, sagte der Abgeordnete Hartmut Beucker. Auch die AfD werde diskriminiert, da sie im Landtag bei Anträgen und Besetzung von Positionen ausgegrenzt werde. Wüst kommentierte das mit zwei Worten: "Thema verfehlt."

© dpa-infocom, dpa:230525-99-826933/4

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