Justiz:Das Recht der Natur

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Ein Nebelwald in Ecuador. (Foto: Matthew Williams-Ellis /imago images)

Die Langnasenstummelkröte als Klägerin, ein Nebelwald vor Gericht? Das Ökosystem schlägt zurück – jetzt auch juristisch.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Manchmal lohnt es sich, Gerichtsurteile bis zum Ende zu lesen. Das Landgericht Erfurt hat vor zwei Wochen über einen jener zahllosen Dieselfälle entschieden. Ein BMW-Fahrer erstritt Schadenersatz wegen eines verbotenen Thermofensters – wirklich nichts Neues. Dann aber, ab Randnummer 26, spricht das Gericht unvermittelt von den „Eigenrechten der Natur“, die hier zu berücksichtigen seien, herleitbar aus der EU-Grundrechtecharta. „Diese Grundrechte sind nämlich ihrem Wesen nach auf die Natur oder einzelne Ökosysteme – ökologische Personen – anwendbar“, schreibt das Gericht. „Aus der Charta ergibt sich das umfassende Recht ökologischer Personen, dass ihre Existenz, ihr Erhalt und die Regenerierung ihrer Lebenszyklen, Struktur, Funktionen und Entwicklungsprozesse geachtet und geschützt werden.“

Ökologische Personen? Eigenrechte der Natur? In deutschen Gerichtssälen hat man davon noch nichts gehört, wenn man einmal vom Landgericht Erfurt absieht, das mit gleicher Begründung bereits den Europäischen Gerichtshof angerufen hatte. In Deutschland gelten die Grundrechte bisher für Menschen, einige gelten auch für Verbände oder Unternehmen – aber nicht für Flüsse und Wälder.

Hinter dem Urteil, so berichtet das Fachportal Legal Tribune Online, steckt der Richter Martin Borowsky, anerkannter Fachmann für EU-Recht und Co-Autor des maßgeblichen Fachkommentars zur Charta. Und was soll man sagen: Sein innovatives Konzept kann sich auf einen bemerkenswerten globalen Trend stützen. In Ecuador werden der Natur in der Verfassung eigene Rechte zuerkannt, dort haben nicht nur Flüsse erfolgreich geklagt, sondern auch ein Nebelwald und eine Langnasenstummelkröte. Kürzlich trat der Machángara-Fluss vor Gericht auf, repräsentiert durch ein großes Glas mit trübem Wasser.

Auch in Kolumbien und Guatemala, in Neuseeland und Indien und sogar in den USA haben Ökosysteme bereits erfolgreich ihre Rechte eingeklagt – selbstredend stets vertreten durch Menschen, die in ihrem Namen sprechen. Und in Europa machte vor zwei Jahren das spanische Mar Menor von sich reden. Dank einer Bürgerinitiative wurde die Salzwasserlagune zur „juristischen Person“ erklärt.

In Südamerika ein Trend, in Europa noch exotisch

Als Triebkraft dieses Trends spielt in Südamerika die indigene Vorstellungswelt einer belebten Natur eine Rolle, aber auch das Misstrauen gegenüber der Politik – man legt den Naturschutz lieber in die Hände der Justiz. Zudem lässt sich mit den Eigenrechten der Natur ein suggestives Gegenmodell zum kapitalistischen Wirtschaftssystem errichten, das letztlich den größten Anteil an der Zerstörung ökologischer Ressourcen trägt. Unternehmen sind „juristische Personen“, geschützt durch Gewerbefreiheit und Eigentumsgarantie. Warum sollte die Natur sich nicht aus eigenem Recht wehren können? Das sei eine Frage der „Waffengleichheit“, schreibt Richter Borowsky.

Doch in Europa bleibt die Idee vorerst exotisch. Das Bundesverfassungsgericht hat 2021 seinen bahnbrechenden Klimabeschluss gefällt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Frühjahr den Schweizer Klimaseniorinnen einen Erfolg beschert. Zwei grandiose Siege für den Klimaschutz – doch stets ging es um die Rechte von Menschen.

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