Labour-Vorsitz:Chance für eine Partei in der Sinnkrise

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Jeremy Corbyn gilt als stramm links. (Foto: Bloomberg)

Die Labour-Partei ist in Aufruhr: Wahrscheinlich wird der Außenseiter Jeremy Corbyn der neue Vorsitzende. Er gilt als stramm links. Der Partei könnte das gut tun.

Kommentar von Christian Zaschke

Es wäre eine leise Untertreibung zu sagen, dass das Establishment der britischen Labour-Partei gerade recht besorgt ist. Die Stimmung schwankt zwischen Resignation und Panik, was daran liegt, dass an diesem Samstag aller Voraussicht nach der 66 Jahre alte Jeremy Corbyn zum neuen Parteivorsitzenden gekürt wird.

Für das Gros der Fraktion im Parlament ist das eine Horrorvorstellung, weil Corbyn zum ganz linken Flügel der Partei gehört und die meisten Abgeordneten der Ansicht sind, mit diesen Positionen ließen sich keine Wahlen gewinnen. Frühere Parteigrößen mahnen seit Wochen, Labour sei dem Untergang geweiht, falls Corbyn tatsächlich den Vorsitz übernähme. Selbst die Konservativen frohlocken ob dieser Aussicht, weil sie glauben, dass ihre Rivalen dann implodierten.

In vielen Kommentaren der linken wie der konservativen Presse ist zu lesen, Corbyn und seine Anhänger hätten die Wahl gewissermaßen gekapert. Damit wird insinuiert, es gehe nicht alles mit - nun ja - rechten Dingen zu. Tatsächlich beruht der Aufstieg Corbyns auf einer erstaunlichen Revitalisierung der Parteibasis.

Seit der Abgeordnete aus dem Londoner Stadtteil Islington North mit dem Temperament eines freundlichen Physiklehrers über soziale Gerechtigkeit, Verstaatlichung und Arbeiterrechte spricht, erlebt die Partei einen ungeahnten Zulauf von jungen Wählern und ehemaligen Mitgliedern, die sich in den Tony-Blair-Jahren abgewandt hatten.

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Insbesondere die immer noch zahlreichen Blair-Anhänger in der Fraktion waren sich sicher, dass die Partei nach der Wahl im Mai wieder auf den wirtschaftsfreundlichen Mitte-Kurs des ehemaligen Premiers einschwenken würde.

Als Hauptgrund für die deutliche Niederlage hatten sie ausgemacht, dass Ed Miliband die Partei zu weit von der Mitte entfernt habe. Nun ist Miliband im Vergleich zu Corbyn geradezu erzkonservativ. Es passiert also gerade das Gegenteil von dem, was die moderaten Abgeordneten erhofft hatten: Die Basis rückt jetzt erst richtig nach links.

Gut 600 000 Menschen durften in der Urwahl mitstimmen. Knapp zur Hälfte sind das Parteimitglieder, dazu kommen Gewerkschaftsmitglieder und sogenannte Labour-Unterstützer, die sich für drei Pfund registrieren konnten. Dieses System ist erst 2014 eingeführt worden, um die Macht der Gewerkschaften einzudämmen, die die Partei grundsätzlich weiter links sehen wollen, und um die Wahl zu öffnen. Als "Unterstützer" haben sich vor allem Anhänger Corbyns registriert.

Entstanden ist so eine Bewegung, die sich mit den linkspopulistischen Zielen Corbyns identifiziert. Häufig scheitern rasch wachsende politische Bewegungen daran, dass ihnen der Übergang zur organisierten Partei nicht gelingt. Die Bewegung an der Basis der Labour-Partei hat dieses Problem nicht: Sie übernimmt den Apparat einfach von innen.

Selbst wenn Jeremy Corbyn an diesem Samstag doch nicht Parteichef werden sollte, hat seine Kandidatur Labour tief bewegt. Die anderen Kandidaten waren gezwungen, sich mit Corbyns Popularität und seinen Positionen auseinanderzusetzen. Das führte dazu, dass die Partei sich erstmals seit mehr als 20 Jahren, als Tony Blair "New Labour" erfand, wieder grundsätzliche Fragen über ihre Herkunft als Arbeiterpartei und über ihre Zukunft im 21. Jahrhundert stellt.

Ob diese Zukunft darin besteht, im Jahr 2020 mit einem dann 71-jährigen Altlinken als Kandidaten für das Amt des Premierministers anzutreten, sei dahingestellt - vermutlich würde Corbyn den Parteivorsitz ohnehin nach zwei Jahren freigeben. So oder so hat seine Kandidatur dafür gesorgt, dass die Labour-Partei sich endlich einer Frage stellen muss, der sie zu lange ausgewichen ist: Was will sie wirklich sein?

© SZ vom 11.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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