Labour Party:Die Nicht-Entscheider

Labour Party: „Support the leader – unterstützt den Anführer“: Mit dieser Formel wurde auf dem Parteitag in Brighton für Labour-Chef Corbyn geworben.

„Support the leader – unterstützt den Anführer“: Mit dieser Formel wurde auf dem Parteitag in Brighton für Labour-Chef Corbyn geworben.

(Foto: Kirsty Wigglesworth/AP)

Mit einem komplizierten Kompromiss vermeidet die Partei eine klare Position zum Brexit. Und erspart so Jeremy Corbyn eine Blamage.

Von Cathrin Kahlweit

Eigentlich hatte Jeremy Corbyn seine große Abschlussrede erst am Mittwochmittag halten wollen; er hat einen schweren Parteitag überstanden, die Partei mit Mühe hinter sich und Kritiker zum Verstummen gebracht, er wollte jetzt in aller Ruhe seine Ernte einfahren und sich als nächster Premierminister der Linken feiern lassen. Aber dann musste alles ganz schnell gehen, die Rede wurde eilig auf Dienstagnachmittag vorverlegt. Viele Abgeordnete waren da längst weg, sie wollten in London den Sieg des Parlaments über die Regierung feiern - und nicht in Brighton den Parteichef, der, wie alle Umfragen besagen, ohnehin schlechte Chancen hat, in die Downing Street einzuziehen.

Corbyn reiste am Abend hinterher, um am Mittwoch als Oppositionsführer triumphierend in das Unterhaus einzuziehen. Die Labour-Themen waren zu diesem Zeitpunkt schon von den sensationellen Ereignissen im Supreme Court überlagert worden. Und damit auch der Streit um den Brexit-Kurs, der den Parteitag so aufgewühlt hatte. Schatten-Brexitminister Keir Starmer hatte diesen Konflikt am Montag nach heftiger Debatte mühsam abgebogen. Seit Jahren setzt sich der 57-Jährige für den Verbleib in der EU ein. Er hatte auf dem Parteitag 2018, als Parteichef Jeremy Corbyn noch der Held der versammelten Linken war, in einer episch langen Nachtsitzung einen Kompromiss zusammengezimmert, der niemanden vor den Kopf stieß: Wir sind tendenziell für "Remain", fürs Bleiben in der EU; ein guter Deal ist aber auch okay, und wie man den bekommt, das bleibt offen. "All options are on the table", alle Optionen bleiben auf dem Tisch.

Jetzt, befand Starmer in seiner Rede sarkastisch, sei man ja zum Glück schon weiter. Vor Kurzem hat sich die Parteiführung für ein zweites Referendum ausgesprochen. Allerdings erst nach gewonnenen Wahlen. Und erst nach dem Aushandeln eines besseren Deals in Brüssel, als ihn die damalige Premierministerin Theresa May oder Johnson geschafft haben. Der Termin für die neue Volksabstimmung: Frühjahr, eher Mitte 2020. Für zwei Drittel der Mitglieder, die Remain gewählt haben, dürfte sich das wie eine Ewigkeit anfühlen.

Aber es ging in Brighton 2019 letztlich nicht um die Brexit-Frage. Es ging um die Partei und ihre Wahlchancen. Drei Vorschläge standen in der Brexit-Debatte zur Abstimmung, zwei von der Führung, eine von den Remainern. Die Corbyn-Seite wollte abwarten, neutral bleiben, später entscheiden. Die andere wollte jetzt sofort entscheiden, für eine Remain-Partei.

Den ganzen Montag lang hatte es geheißen, das würde eng. Eine große Gewerkschaft wandte sich von Corbyn ab und unterstützt die Variante der Remainer. Mehrere Minister und auch der Londoner Bürgermeister sind dafür. Die Spannung war riesig, jedem war klar, wenn das für Corbyn schiefgeht, ist fraglich, ob er Parteichef bleiben kann.

Corbyn steht unter Druck. Die Wähler misstrauen ihm

Starmer wusste, auch auf ihn würde es ankommen. Also forderte er ein Referendum. Was die Parteiführung bekanntlich auch tut. Er sagte, die Briten müssten entscheiden, ob ein von einem Labour-Premierminister ausgehandelter Deal besser sei als der Verbleib in der EU. Was die Führung auch will. "Ich habe eine simple Nachricht", rief er, "wenn ihr ein Referendum wollt, wählt Labour. Wenn ihr das letzte Wort über den Brexit wollt, wählt Labour. Wenn ihr für Remain kämpfen wollt, wählt Labour. Wir lassen die Wähler entscheiden." Er unterstützte also Jeremy Corbyn. Manch einer war erstaunt. Starmer schritt mit seiner Rede auf einem dünnen Seil über den tiefen Abgrund, der auf dem Parteitag in Brighton doch eigentlich zugeschüttet werden sollte. Was er nämlich nicht sagte: "Ich finde es wahnsinnig, ohne klares Bekenntnis in den Wahlkampf zu ziehen, im Falle eines Sieges einen Vertrag mit Brüssel auszuhandeln und den dann bestenfalls sechs Monate später zur Abstimmung zu stellen." Das und noch mehr sagte er erst hinterher. In kleiner Runde. Da bekannte er: Natürlich werde er im Wahlkampf für Remain einstehen. Und nicht für irgendeine "Ich-will-mich-nicht-festlegen"-Message. Aber da hörten ihn nur noch seine Freunde. Und nicht die Freunde des Parteichefs.

Corbyn steht unter Druck. Die Wähler misstrauen ihm. Traute ihm der Parteitag noch? Der Druck wuchs stündlich. Wer nicht für Corbyn votierte, war gegen ihn. Wer Corbyns Kurs infrage stellte, war gegen ihn. "Support the leader" - das war vermutlich der meist gesagte Satz in der Konferenzhalle. Delegierte keilten gegen "die Medien", die angeblich Dreck über Corbyn ausschütteten, sie priesen den Mann, der Labour wieder groß gemacht habe, sie wollten nicht über den Brexit reden, der alles andere übertönt, sie wollten über Eliteschulen diskutieren und über den Krieg in Jemen, über Umweltpolitik und kostenlose Betreuung im Alter, über die Vier-Tage-Woche und Boris Johnson, den Intimfeind. Über Sozialismus. Nicht über Brexit.

Die Abstimmung selbst ging dann im Chaos unter. Die Delegierten stimmten per Handzeichen ab - ungewöhnlich genug bei einer so wichtigen Entscheidung. Die Vorlage zum Brexit wurde klar angenommen. Die Vorlage der Remainer wurde - ja was eigentlich? Erst sagte die Sitzungsleiterin: "auch angenommen". Aber die Generalsekretärin, eine Vertraute Corbyns, korrigierte: "Nein, das wurde abgelehnt." - "Okay, also abgelehnt", korrigierte sich nun auch die Sitzungsleiterin. Und sagte in den Sturm der Entrüstung hinein, sie werde die Auszählung nicht noch einmal mit Stimmkarten wiederholen; egal wie sie es mache, sie kriege sowieso Ärger.

Das Ergebnis: umstritten, unklar. Bis in die Nacht diskutierten Delegierte, ob die Remain-Variante auf Druck von oben weg-gezählt worden war - und ob das Votum demokratisch zustande kam. Am Dienstag war das alles vergessen. Corbyn teilte den Genossen den Sieg des Parlaments über die Regierung mit. Johnson müsse gehen, rief er, und der am kürzesten dienende Premier des Landes werden. Die Corbyn-Fans im Parkett jubelten. Mit jedem Schlag für Johnson sehen sie ein wenig mehr Licht am Horizont für Jeremy Corbyn.

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