Labour-Parteitag:Erst ein Mordanschlag, dann eine Rebellion und immer noch kein Brexit-Plan

Second day of the Labour party annual conference in Brighton

"Ich unterstütze Einheit lieber als Spaltung": Das steht auf einem Rahmen, den Labour-Chef Jeremy Corbyn beim Parteitag hochhält.

(Foto: REUTERS)
  • Auf dem Parteitag der britischen Labour-Partei in Brighton wird rebelliert und intrigiert.
  • Am Samstag scheiterte der Plan des linken Parteiflügels, den Posten des Parteivize abzuschaffen, den momentan ein Kritiker des Parteichefs Corbyn innehat.
  • Corbyn schlägt vor, den weiteren Brexit-Kurs der Partei erst nach den Neuwahlen festzulegen.
  • Kritiker, darunter prominente Labour-Politiker, fordern ein klares Bekenntnis zum Verbleib in der EU und eine zweite Volksabstimmung.

Von Cathrin Kahlweit, Brighton

Schon bevor sich die Labour-Delegierten in der Küstenstadt Brighton überhaupt versammelten, hatte die Partei erste Schlagzeilen gemacht: Auf einer Sitzung des Exekutiv-Komitees (NEC), ansonsten eine eher dröge Angelegenheit, hatte es einen Mordanschlag gegeben.

So formulierte es zumindest Tom Watson, Vize-Parteichef. Der hatte am Freitagabend in einem Restaurant in Manchester erfahren, dass Jon Lansman, Chef der linken Parteisektion "Momentum", im NEC einen Antrag eingebracht hatte, den Posten des Vizes schlicht zu streichen. Der Antrag ging nicht sofort durch, die Abstimmung wurde auf den Samstag vertagt. Der Plan: Sollte sich das Exekutivkomitee für diese Statutenänderung entscheiden, wäre eine der ersten Amtshandlungen der Delegierten zum Auftakt des Parteitages gewesen, Watson um sein Amt zu bringen. Dieser gilt als Kritiker von Parteichef Jeremy Corbyn und hatte sich zuletzt, im Gegensatz zur Parteispitze, für ein Brexit-Referendum noch vor Neuwahlen ausgesprochen.

Kaum war die Empörung verstummt, kam die nächste Attacke - von der anderen Seite

Watson bat darum, telefonisch an der zweiten Sitzung teilnehmen zu können; er schaffe es nicht auf die Schnelle von Manchester nach Brighton. Die Bitte wurde ihm verwehrt. In der BBC sprach der Labour-Mann daher am Samstagmorgen von einem "drive-by-shooting", einem Mordanschlag aus dem fahrenden Auto. Und fügte seiner Metapher über den Umgang mit der eigenen Person noch eine schneidende Analyse hinzu: Momentum habe eine "sektiererische Attacke" auf die Meinungsfreiheit in der Labour-Partei lanciert.

In der Nacht zum Samstag liefen die Drähte in der Partei heiß, die Empörung war groß, Ex-Parteichef Ed Miliband twitterte, jetzt sei Labour endgültig von allen guten Geistern verlassen: zu Beginn eines Parteitages, der einen und heilen und die tiefen Gräben in der Partei überwinden sollte, quasi aus der Deckung und Vorwarnung einen wichtigen Vertreter der Remain-Seite zu eliminieren? Ob Corbyn davon wisse, ob er Teil des Komplotts sei, wurde gerätselt, und ob jetzt Jon Landsman und Momentum endgültig die Partei übernommen hätten.

Die Jagd wurde dann kurzfristig abgeblasen; die Empörung in der Partei war zu groß gewesen. Corbyn intervenierte und wandelte die Abschaffung des Stellvertreterpostens in eine "vorläufige Beobachtung" um; die Sache wurde also auf Eis gelegt. Nicht abgesagt.

Kaum war die größte Empörung verstummt, kam die nächste Attacke, diesmal von der anderen Seite. Nicht von Corbyns Leuten gegen einen Kritiker, sondern von seinen Kritikern - gegen Jeremy Corbyn. Der Parteichef hat sich seit dem Brexit-Referendum 2016 nicht eindeutig auf eine Seite gestellt. Im vergangenen Jahr votierte der Parteitag nach langem Ringen dafür, dass sich Labour für ein zweites Referendum aussprechen wollte - als eines von zwei Mitteln, um den Brexit abzuwenden. Corbyn plädierte damals für Neuwahlen, gegen ein Referendum. Jetzt, ein Jahr später und vor dem Parteitag, auf dem Labour sich fit und bereit zeigen will für Wahlen und den Einzug in die Downing Street, beschloss Corbyn, das zu tun, was die Briten "auf dem Zaun sitzen" nennen. Er forderte, die Partei solle die Entscheidung, ob man für oder gegen den EU-Austritt ist, auf die Zeit nach den Wahlen vertagen.

Der kollektive Aufschrei blieb auch diesmal nicht aus. Bevor der Parteitag am Samstagnachmittag eröffnet wurde, zogen schon Demonstranten durch Brighton. Sie forderten eine zweite Volksabstimmung. Und, dass sich Labour an die Spitze der Remain-Bewegung setzen solle. An der Spitze des Demonstrationszuges marschierten drei Mitglieder des Schattenkabinetts von Corbyn, darunter die designierte Außenministerin, Emily Thornberry, der designierte Brexit-Minister, Keir Starmer, und der designierte Finanzminister, Clive Lewis. Dies war offene Rebellion.

Gegen Starmer, Abgeordneter des Londoner Wahlkreises Holborn und St. Pancras, läuft im Übrigen derzeit ein von Momentum-Anhängern initiiertes Abwahlverfahren. Er soll bei der nächsten Wahl durch einen Corbyn-freundlicheren Parlamentarier ersetzt werden. Ein Abwahlverfahren läuft auch gegen Harriet Harman, Abgeordnete für Peckam, die als Nachfolgerin des scheidenden Parlamentssprechers John Bercow kandidiert. Corbyn-Kritiker hatten sie als mögliche Premierministerin in einem Übergangskabinett ins Spiel gebracht, für den Fall, dass Boris Johnson per Misstrauensvotum gestürzt werden sollte. Corbyn bestand darauf, dass er als Oppositionschef der natürliche Kandidat sei. Das Votum kam nicht zustande.

Die Zeiten, in denen Tausende Fans begeistert "Oh, Jeremy Corbyn" intonierten, sind vorbei

Zu Beginn der Woche will sich der Parteitag vor allem mit Gesundheits- und Bildungsthemen befassen. Ein Antrag zur Abschaffung von Privatschulen wird diskutiert, und der Plan, nach einem Wahlsieg Aktienpakete von Großunternehmen an die dort beschäftigten Arbeitnehmer auszugeben. Der Brexit steht auch auf der Tagesordnung, wenngleich er vorsichtshalber nicht extra ausgewiesen ist. Erwartet wird, dass es um die Position der Parteispitze erneut einen heftigen Streit geben wird.

Derweil plant die Partei schon für die Zeit nach Corbyn. Der Parteichef ist 71 Jahre alt. In aktuellen Umfragen liegt Labour bei 22 Prozent und damit 15 Punkte hinter den Tories. Nur 31 Prozent der Befragten finden die Position von Labour in der Brexit-Frage klar. Die Tories liegen hier bei 76 Prozent. Die Sympathiewerte für Corbyn in der Bevölkerung sind desaströs, auch in der Partei halten ihn viele nicht für einen geeigneten Premierminister. Die Antisemitismus-Vorwürfe, die seit langem schwelen, sind nicht ausgeräumt, die britische Menschenrechtskommission ermittelt.

Labour dürfte bei den nächsten Wahlen Sitze an die Liberaldemokraten verlieren, die sich für ein Ende des Brexitprozesses aussprechen. Und an die Tories abgeben, die eindeutig für Leave sind. Die Zeiten, in denen Tausende Fans begeistert "Oh, Jeremy Corbyn" intonierten, sind vorbei. Brighton 2019 - es könnte der letzte Parteitag sein, auf dem Corbyn am Mittwoch die wichtige Abschlussrede hält.

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