Süddeutsche Zeitung

Nationalsozialismus:KZ-Wachmann: Prozess gegen Hundertjährigen beginnt

Der Angeklagte habe durch seinen Wachdienst "wissentlich und willentlich" das Tötungssystem im KZ Sachsenhausen unterstützt, sagt der Staatsanwalt.

Von Robert Probst

Der Angeklagte kommt mit Rollator, sein Gesicht will er den Pressefotografen nicht zeigen. Anwalt Stefan Waterkamp hilft dem 100 Jahre alten Josef S., den Kopf hinter einer blauen Mappe zu verstecken. Sagen will S. beim Auftakt des Prozesses in Brandenburg an der Havel erst mal auch nichts. Zumindest nicht zu den Vorwürfen. Die Staatsanwaltschaft legt ihm Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord in 3518 Fällen zwischen Januar 1942 und Februar 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen zur Last.

Wenige Meter entfernt sitzt in der Sporthalle, in der die Verhandlung stattfindet, Leon Schwarzbaum in seinem Rollstuhl, auch er ist 100 Jahre alt. Schwarzbaum wurde 1921 in Hamburg geboren und überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Sachsenhausen. Er berichtet seit Jahrzehnten über seine Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus. "Es ist der letzte Prozess für meine Freunde, Bekannten und meine Lieben, die ermordet worden sind, bei dem der letzte Schuldige noch verurteilt wird, hoffentlich", sagt Schwarzbaum vor Prozessbeginn den Reportern.

Zuvor hatte Staatsanwalt Cyrill Klement bei der Verlesung der Anklage ausführlich die systematischen Tötungen von Tausenden Lagerinsassen während der Jahre 1941 bis 1945 beschrieben. Dazu gehörten Massenerschießungen in speziellen Anlagen, Vernichtungsaktionen in Gaskammern und das Sterben durch Entkräftung und Krankheiten. "Der Angeklagte unterstützte dies wissentlich und willentlich zumindest durch gewissenhafte Ausübung des Wachdienstes, die sich nahtlos in das Tötungssystem einfügte." Geplant sind insgesamt 22 Verhandlungstage, die sich bis in den Januar 2022 hineinziehen. Verhandelt werden kann nur zwei Stunden pro Tag. Am Freitag will S. sich immerhin zu seinen persönlichen Verhältnissen äußern.

Entgegen allen Annahmen wird aber auch dieses Verfahren nicht der letzte NS-Prozess sein. Seit dem Urteil gegen John Demjanjuk 2011 in München hat die Justiz nach vielen Jahrzehnten des Nichtstuns die Wachmänner in Vernichtungslagern und KZs wieder in den Blick genommen. Obwohl das Urteil gegen Demjanjuk, der im Mordlager Sobibor als ukrainischer "Hilfswilliger" tätig war, nie rechtskräftig wurde, begann danach die Suche nach noch lebenden ehemaligen Wachmännern und SS-Leuten - vor allem bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg.

Mord verjährt nicht, auch nicht die Beihilfe dazu

Seit dem Urteil gegen den "Buchhalter von Auschwitz", Oskar Gröning, folgte auch der Bundesgerichthof 2016 der neuen Linie, dass alle am Holocaust Beteiligten als Rädchen in der Mordmaschinerie mindestens für Beihilfe zum Mord zu bestrafen seien. Und Mord verjährt nicht, ebenso nicht die Beihilfe dazu. Im vergangenen Sommer wurde Bruno D., ehemals Wachmann im Konzentrationslager Stutthof, mit 93 Jahren vom Landgericht Hamburg verurteilt. Er erhielt wegen seines Alters zur Tatzeit eine Jugendstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Jüngst begann vor dem Landgericht Itzehoe ein Prozess gegen die heute 96 Jahre alte ehemalige Sekretärin des Kommandanten des KZ Stutthof - die Angeklagte entzog sich durch Flucht aus dem Altersheim. Danach kam sie kurzzeitig in U-Haft und wird nun aller Voraussicht nach am 19. Oktober die Anklage verlesen bekommen.

Derzeit befinden sich nach Angaben aus Ludwigsburg verschiedene Verfahren zu Konzentrationslagern bei den Staatsanwaltschaften Erfurt, Weiden, Neuruppin, Hamburg und bei der Generalstaatsanwaltschaft Celle. Sie betreffen die Konzentrationslager Buchenwald, Flossenbürg, Ravensbrück, Sachsenhausen und Neuengamme. Die Vorwürfe lauten jeweils auf Beihilfe zum Mord in einer Vielzahl von Fällen. In vielen Fällen kommt es jedoch nicht mehr zum Prozess - entweder weil die Angeklagten sterben oder weil sie als nicht mehr verhandlungsfähig eingestuft werden.

Zuletzt hatte die Zentrale Stelle in Ludwigsburg Überlegungen angestellt, ob nicht auch ehemalige Wehrmachtsoldaten, die sowjetische Kriegsgefangene bewacht hatten, zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Von den 5,7 Millionen Rotarmisten in deutscher Hand starben mehr als 3,3 Millionen. Sie erhielten in den Lagern kaum Essen und hatten oft auch keine Unterkunft. Es gehörte zur Strategie der Wehrmacht, die Gefangenen im Vernichtungskrieg im Osten einfach sterben zu lassen.

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