KZ Sachsenburg:Fast vergessene Schande

KZ Sachsenburg: Das ehemalige Konzentrationslager Sachsenburg

Das ehemalige Konzentrationslager Sachsenburg

(Foto: Anna Schüller)

Sachsenburg war eines der ersten Konzentrationslager in Deutschland. Hier wurden Foltermethoden erprobt, die später auch in Buchenwald angewendet wurden. Doch bis heute gibt es keine Gedenkstätte.

Von Antonie Rietzschel, Sachsenburg

Als Leichenwäscherin hat Charlotte Hunger schon einiges gesehen. Doch als sie am 5. Oktober 1935 in die Friedhofshalle gerufen wird, bietet sich ein Anblick, der ihr von nun an den Schlaf raubt: Vor ihr liegt die Leiche des Dresdner Journalisten und Sozialdemokraten Max Sachs. "Sein Körper war mit vielen blutunterlaufenen blauen Flecken bedeckt, die eine durchschnittliche Größe eines Handtellers hatten", schrieb sie viele Jahre später in einem Brief. Hunger sieht "Wunden, die durch Verbrühung verursacht wurden". Die Haut hängt teilweise in Fetzen herunter. Max Sachs starb einen qualvollem Tod. Tagelang wurde er schikaniert und gefoltert, bis schließlich sein Herz versagte.

Das Schicksal von Max Sachs war lange in Vergessenheit geraten - genauso wie der Ort, an dem er starb. Die alte Spinnerei in Sachsenburg diente den Nationalsozialisten als eines der ersten Konzentrationslager in Deutschland. Hier, 25 Kilometer nordöstlich von Chemnitz, begannen Karrieren von SS-Führern, hier wurden Foltermethoden erprobt, die später auch in anderen Konzentrationslagern zum Einsatz kamen. Das Gelände in Sachsenburg ist ein Ort der Schande. Doch anders als in Buchenwald oder Sachsenhausen gibt es bis heute keine offizielle Gedenkstätte.

Die Gebäude verfallen. Sie gleichen mittlerweile typischen Industrie-Ruinen, von denen es seit der Wende so viele im Osten gibt. Auf der Rückseite des Haupttraktes lagert Feuerholz, daneben rosten einige Autowracks. Anfang der Dreißigerjahre befand sich hier der Appellplatz auf dem die Häftlinge den "Sachsengruß" machen mussten: Stundenlang in der Hocke sitzen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Um das zu erfahren, braucht es Anna Schüller. Die 26-jährige Lehrerin hat die Geschichte Sachsenburgs während ihres Studiums aufgearbeitet.

KZ Sachsenburg: Der frühere Appellplatz in Sachsenburg.

Der frühere Appellplatz in Sachsenburg.

(Foto: Anna Schüller)

Gemeinsam mit einem Dutzend Mitstreiter stemmt sie sich seit 2009 gegen das Vergessen. Es ist ihrem Engagement zu verdanken, dass Sachsen das ehemalige Konzentrationslager 2012 als Ort des Gedenkens anerkannt hat. Nur ist seitdem nicht viel passiert. "Dabei zeigt dieser Ort, wie schnell sich das System einer Diktatur manifestiert - und das mit dem Wissen der Bevölkerung", sagt Anna Schüller. Besonders jetzt, wo Rechtsextreme und einzelne AfD-Politiker die Demokratie in Frage stellen, sei es wichtig daran zu erinnern.

Die ersten Konzentrationslager entstanden direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933. Sie dienten dazu, politische Gegner auszuschalten. Allein in Sachsen gab es mehr als ein Dutzend solcher Einrichtungen, bevor Sachsenburg zum Sammellager wurde.

Die Errichtung dieser frühen Konzentrationslager vollzog sich erschreckend schnell: In Sachsenburg besichtigten bereits Mitte April 1933 Vertreter der lokalen Behörden das Gelände. Wenige Wochen später kamen die ersten Häftlinge. Ende Mai 1933 waren es mehr als 350. In den darauf folgenden Jahren schwankten die Zahlen extrem. Nach einer Verhaftungswelle gab es im Oktober 1935 mehr als 1300 Häftlinge.

In Sachsenburg waren vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten inhaftiert - aber auch Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche sowie Zeugen Jehovas. Sie schufteten in den Werkstätten des Lagers oder im Steinbruch, bauten Straßen und Häuser für die Wachmannschaft. Bis heute hält sich das Gerücht, bei Sachsenburg habe es sich lediglich um ein Arbeitslager gehandelt. Doch die Unterlagen, die Anna Schüller ausgewertet hat, widerlegen dies. Die Wachmannschaften, zunächst unter Führung der SA und später der SS, wurden auch militärisch ausgebildet. Das Konzentrationslager verfügte über einen eigenen Schießstand.

KZ Sachsenburg: Der Fluss Zschopau bildete eine natürliche Barriere um das Lager.

Der Fluss Zschopau bildete eine natürliche Barriere um das Lager.

(Foto: Initiative "Klick")

Im Lager selbst herrschte ein Terror-Regime. Schikane und Folter gehörten für die Gefangenen zum Alltag. Das Martyrium von Max Sachs etwa begann direkt nach seiner Überführung nach Sachsenburg am 23. September 1935. Die Lagerleitung teilte ihn dem Jauchekommando zu. Wachleute warfen ihn in die Abortgrube, schleppten ihn anschließend in den Waschraum und traktierten ihn mit Schrubbern, bis er nicht mehr gehen konnte. So ging das tagelang. Sachs musste im Steinbruch arbeiten, die Aufseher überschütteten ihn mit Wasser und Jauche.

Mit der Wende kam das Vergessen

Sachs ist einer von 20 Häftlingen, deren Tod in Sachsenburg bis Ende 1935 dokumentiert wurde. Wie viele an den Folgen der Folter später verstarben, ist bislang unbekannt. Die Methoden der Wachmannschaften wurden mit der Zeit immer perfider: In Sachsenburg gab es einen sogenannten Prügelbock, auf den die Gefangenen geschnallt wurden, um sie mit Stockschlägen zu bestrafen. Der Prügelbock wurde auch später in anderen Konzentrationslagern angewendet, etwa in Buchenwald oder Auschwitz. Ebenso die "singenden Pferde". Dabei mussten die Häftlinge schwer beladene Karren ziehen und dabei Lieder singen.

Die Bevölkerung wusste Bescheid, was sich in dem Lager abspielte. Davon ist die Lehrerin Anna Schüller überzeugt. Viele Aufseher kamen anfangs aus der näheren Umgebung. Handwerker aus der Region boten ihre Dienste an. Helfer, etwa für die Küche wurden offiziell über Stellenanzeigen gesucht. Das Lager verschaffte Menschen in der Region ein Auskommen.

In der Bevölkerung regte sich aber auch Protest und Solidarität mit den Gefangenen. So zog nach der Verhaftung einiger Pfarrer ein Posaunenchor vor das Lager und machte dort Musik, ihre Mitglieder wurden daraufhin einen Tag lang in Sachsenburg festgehalten.

KZ Sachsenburg: Auf den Wänden der Arrestzellen haben sich die Gefangenen verewigt.

Auf den Wänden der Arrestzellen haben sich die Gefangenen verewigt.

(Foto: Anna Schüller)

Und auch die Gefangenen leisteten Widerstand. Bei einer inszenierten "Volksabstimmung" über den Austritt aus dem Völkerbund stimmten nur 27 Prozent dafür. Harte Strafen und Verbote waren die Folge. Ein Zeitzeuge berichtete Anna Schüller, dass die Häftlinge immer wieder ein selbst gedichtetes Lied anstimmten, das "Sachsenburglied". Darin heißt es: "Tausend Kameraden, Mann an Mann. Nicht mehr gefangen, nicht mehr in Acht und Bann. Jubelnden Herzens erklingt ihr Lied. Frei! Frei! Frei wir sind!"

Die Hoffnung nach Freiheit erfüllte sich nur für die wenigsten. 1937 wurden die ersten Häftlinge nach Buchenwald verlegt. Sie mussten beim Bau eines Konzentrationslagers mithelfen, das den Schrecken von Sachsenburg noch übertreffen sollte. Die letzten Häftlinge verließen das Lager am 9. September 1937.

Anschließend diente die Fabrik wieder als Spinnerei. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb verstaatlicht. Eine Gedenkstätte erinnerte an die Zeit des Konzentrationslagers. Doch mit der Wende begann das Vergessen. Als die VEB Zwirnerei Sachsenburg 1990 schließen musste, kaufte eine Privatperson aus Hessen das Gelände, ohne etwas über dessen Vergangenheit zu wissen. Heute wohnen drei Familien in den Nebengebäuden. Das Hauptgebäude ist eine Ruine. Der Besitzer hat Anna Schüller und ihren Mitstreitern die Schlüssel überlassen. Sie haben ein kleines Museum eingerichtet, doch die Schautafeln sind mittlerweile veraltet.

KZ Sachsenburg: Hier schliefen früher mehr als 1000 Gefangene.

Hier schliefen früher mehr als 1000 Gefangene.

(Foto: Sebastian Laube; Anna Schüller)

Wenn Anna Schüller Besucher über das Gelände führt, stehen diese zuweilen ratlos in einer der leeren Fabriketage. Eine zurückgelassene Waage erinnert an die DDR-Vergangenheit, doch es gibt nicht einmal ein Schild, das darauf hinweist, dass hier die Betten der Häftlinge standen. Draußen auf dem ehemaligen Appellplatz bröckelt der Putz von der Wand mit aufgemalten Zielscheiben. Womöglich wurden sie von den SS-Wachleuten benutzt, um die Gewehre zu kalibrieren. In den Arrestzellen verblassen die Botschaften der Häftlinge.

Was die Zeit verschont, fällt Unwissen oder Ignoranz zum Opfer. Das Eingangstor der Sporthalle, wo Häftlinge bis zur Erschöpfung Übungen machen mussten, ersetzte einer der Anwohner durch ein Rolltor. Das Gebäude dient heute als Lagerraum. Den Gartenpavillon, der einst vor der Kommandantenvilla stand, baute ein Malermeister aus der Umgebung ab. Warum? Anna Schüller weiß es nicht.

In der Bevölkerung fehle der Respekt vor dem Ort, sagt Anna Schüller. Auch weil sich bisher keine staatliche Stelle für das frühere Konzentrationslager verantwortlich fühlt. Mehrmals führte Schüller Vertreter anderer Gedenkstätten über das Gelände. Diese waren trotz des ruinösen Zustands fasziniert. Denn während im Konzentrationslager Buchenwald nur noch die Fundamente der Baracken zu sehen sind, gibt es in Sachsenburg zahllose Räume, die von der Geschichte des Ortes erzählen können.

KZ Sachsenburg: Die alte Kommandantenvilla wollte die Stadt Frankenberg abreißen lassen.

Die alte Kommandantenvilla wollte die Stadt Frankenberg abreißen lassen.

(Foto: Anna Schüller)

An Ideen mangelt es Anna Schüller und ihren Mitstreitern nicht. Sie wollen eine Dauerausstellung, die angemessen an den Terror erinnert. Dazu Film- und Kunstprojekte, bei denen sich Jugendliche mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Es mangelte jedoch an der Unterstützung der zuständigen Stadt Frankenberg. Diese kaufte nur zögerlich einzelne Gebäude vom Besitzer zurück. Die Kommandantenvilla wollte sie sogar abreißen lassen. "Es handle sich um einen Schandfleck, hieß es damals im Rathaus", sagt Schüller.

Mittlerweile gab es ein Umdenken. Die Villa bleibt vorerst stehen. Mitte Mai entscheidet die Sächsische Gedenkstättenstiftung zudem über die Förderung des von Frankenberg vorgelegten Konzepts. Geschrieben hat es Anna Schüller. Es geht um 1,2 Millionen Euro zur Errichtung einer Gedenkstätte und 120 000 Euro für die Betriebskosten. Vor kurzem wurde auch im Landtag über Sachsenburg diskutiert. Dabei zeigte sich, dass die Abgeordneten von CDU bis Linke sich einig darin sind, dass in Sachsenburg eine Gedenkstätte entstehen muss. Ein Antrag auf Förderung durch die Staatsregierung wurde jedoch von SPD und CDU abgelehnt.

"Hier muss bald was passieren, sonst ist dieser Ort endgültig dem Verfall ausgeliefert", sagt Anna Schüller. In dem provisorischen Gedenkraum neben den Arrestzellen hängt neuerdings ein Kranz aus roten Nelken und weißen Rosen. Der Spruch auf der roten Schleife klingt wie ein verzweifelter letzter Appell: "Den Toten die Ehre, den Lebenden die Pflicht."

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