Süddeutsche Zeitung

Postkarten von KZ-Häftlingen:"Bin gesund und munter"

Heinz Wewer hat Korrespondenz aus den KZ gesammelt. Die Dokumente geben den Häftlingen ihre Namen zurück - und zeigen, wie die SS ihre Opfer zwang, die Unwahrheit über die schreckliche Lage zu schreiben.

Rezension von Robert Probst

"Jeder Schutzhaftgefangene darf im Monat zwei Briefe oder zwei Karten von seinen Angehörigen empfangen und an sie absenden. (...) Pakete dürfen nicht geschickt werden, da der Gefangene im Lager alles kaufen kann."

Solche und noch weitere Anordnungen zum Schriftverkehr mit Gefangenen standen auf sehr vielen Postkarten, die aus den Konzentrationslagern verschickt wurden. Allein diese Vordrucke zeigen zweierlei: den Zynismus des Lagersystems, denn in den KZ konnten die Häftlinge offiziell außer Briefmarken gar nichts kaufen.

Andererseits war der Briefverkehr mit Verwandten der einzige erlaubte Kontakt zur Außenwelt. Eintreffende Post brachte vielen Menschen Hoffnung in einer hoffnungslosen Lage.

Heinz Wewer, der schon mit dem Buch "Abgereist, ohne Angabe der Adresse. Postalische Zeugnisse zu Verfolgung und Terror im Nationalsozialismus (2017)" Aufsehen erregte, hat sich nun durch fast 40 Sammlungen und Archive in neun Ländern gewühlt und eine erstaunliche Fülle von mehr als 280 Postkarten, Briefen und Briefumschlägen aus dem Kosmos der KZ zusammengetragen.

Seine Herangehensweise nennt sich "gesellschaftshistorisch orientierte Philatelie" - und hilft den Blick der Historiker zu weiten und zu schärfen.

Es geht in dem Buch kaum um die Inhalte dieser Mitteilungen - sie unterlagen einer strengen Zensur, es durften lediglich persönliche Nachrichten allgemeinster Art versandt werden. Über das Lagerleben und -leiden zu schreiben, war bei Strafe verboten.

Die Floskel "Bin gesund und munter" wurde oftmals von der SS diktiert. Vielmehr geht es darum, wie sich auch im Schriftverkehr die Hierarchien in den Lagern spiegelte. Juden etwa waren vom Postsenden und -empfangen zumeist komplett ausgeschlossen, ebenso Sinti und Roma und sowjetische, später auch italienische Kriegsgefangene.

Wewer hat seine Fundstücke eingebettet in eine chronologisch aufgebaute Geschichte einer Vielzahl von Lagern und Nebenlagern, die er akribisch recherchiert und mit mehr als 1000 Anmerkungen dokumentiert hat. Gleichwohl ersetzt das Buch nicht die Lektüre der einschlägigen Monografien und Sammelbände.

Seine Stärke besteht darin, den genannten Menschen, die im KZ nur als Nummern existierten, ihre Namen zurückzugeben. Nur im Postverkehr waren sie wieder Individuen. Wewers Zusammenstellung ist auch ein Beitrag zum Gedenken an die Opfer, denn die allermeisten, deren Post hier vorgestellt wird, erlebten das Kriegsende nicht.

Auch Chaim Flaschen, dessen Briefumschlag () aus Auschwitz vom 15. Januar 1943 links abgedruckt ist, wurde ermordet. Heinz Wewer: Spuren des Terrors. Postalische Zeugnisse zum System der deutschen Konzentrationslager.

Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin Leipzig 2020. 320 Seiten, 370 Abbildungen, 39 Euro.

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SZ vom 20.01.2020/odg
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