KZ-Häftlinge:Als der befreite KZ-Häftling hungernden Deutschen half

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Vieles ist natürlich ähnlich schon beschrieben worden - die kollektive Erfahrung im Ghetto oder KZ kennt eben das stundenlange Appell-Stehen, den unbeschreiblichen Hunger, die willkürlichen Prügelstrafen, die grausamen jüdischen Kapos. All das erzählt Graber in der Rückschau, aus 70 Jahren Entfernung. Und doch darf man annehmen, dass die erzählten Episoden sich ein für allemal in sein Gehirn und seine Seele eingeschrieben haben.

Im Sinne der geforderten Wissensvermittlung mangelt es an vielem, die Geschichte des NS-Reiches wird nur am Rande und sehr holzschnitzartig erwähnt. Die Einordnung der Ereignisse in den Kriegsverlauf fehlt völlig - aber das ist auch nicht der Sinn der Sache. "Dieses Buch habe ich aus einem einzigen Grund geschrieben: Um den Menschen und speziell der Jugend die Botschaft zu übermitteln, dass Hass die Seele vergiftet", betont Graber.

75 Jahre Wannsee-Konferenz

Ungarische Juden auf der Rampe im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, 1944.

(Foto: epd)

Ja, Graber hat eine Botschaft, das Pathetische ist ihm nicht fremd - aber seine Botschaft ist von besonderer Kraft. An der Rampe von Auschwitz, kurz bevor sie getrennt wurden und fast alle seine Familienmitglieder in den Tod gingen, sagte seine Mutter zu ihm: "Sei stark und lass keinen Hass in dein Herz. Liebe ist stärker als Hass, mein Sohn ... vergiss das nie." Daran hat Shlomo Graber sich gehalten. Beeindruckend für einen, der durch die Hölle gegangen ist. Und: Die Botschaft schmälert seine Erzählung nicht.

Auch Robert O. Fisch ("Licht vom Gelben Stern") will mit seinen Erinnerungen nicht ein Denkmal des Grauens setzen, sondern seine Lehre aus dem Holocaust vermitteln. Wie bei Graber heißt sie: Liebe ist stärker als Hass.

Fisch, der als jüdischer ungarischer Junge die KZ Mauthausen und Gunskirchen überlebte, beschreibt in kurzen Abschnitten und ausdrucksstarken Bildern seinen Weg. Heute lebt der 91-Jährige in den USA und hat das "Gefühl, dass alle, die mit dem gelben Stern markiert waren, im Innern tätowiert sind. Am Leben geblieben zu sein ist kein Privileg, sondern eine außerordentliche Verpflichtung".

Zwei weitere Parallelen lassen sich feststellen. Sowohl Graber als auch Fisch berichten, in ihren dunkelsten Stunden sei ihr Hass auf die Peiniger unermesslich gewesen. "Ich werde sie alle töten", so lautet ihre Fantasie beinahe wortgleich.

Und noch frappierender: Beide haben ein besonderes Erlebnis nach ihrer Befreiung. Sie treffen auf bettelnde Deutsche - und beide, vor Stunden noch KZ-Häftlinge, geben etwas ab von dem wenigen, das sie selbst haben.

Graber sagt zu seinen staunenden Kameraden: "Wollt ihr denn Rache nehmen an dieser unschuldigen Frau und dem armen Kind? Wollt ihr diese Frau und ihr Kind hassen, nur weil sie Deutsche sind? Wollt ihr sein wie er?"

Die Botschaft kann aber auch ins Extreme reichen. Etwa bei Eva Mozes Kor, die im Prozess gegen den einstigen SS-Wachmann Oskar Gröning Unmut bei vielen NS-Opfern auslöste, indem sie dem Angeklagten die Hand reichte und ihm öffentlich vergab - und auch ein Buch darüber publizierte ("Die Macht des Vergebens"). "Habe ich nicht das Recht, frei zu sein von dem, was die Nazis mir angetan haben?", fragt die heute 82-Jährige, die in Auschwitz unter Mengeles Zwillingsexperimenten litt. Vergeben sei nicht Vergessen, sondern eine Form von Macht: die Kontrolle über das eigene Leben wiederzugewinnen. (Siehe SZ vom 3. Dezember 2016)

Der Brief einer Gymnasiastin

Überlebensgeschichten waren früher nüchterner, vom direkten Erleben diktiert und wollten einfach schildern, wie es gewesen ist. Die Botschaft: nie wieder. Das ist heute anders. Das Wissen über den Holocaust ist gewachsen, viele Details sind bekannt. Grausames wird wie bei Graber bewusst weggelassen.

Einiges gerät gleichnishaft, wie die Bettler-Szenen zeigen. An ihrem Lebensabend wollen die Zeitzeugen ihr Vermächtnis weitergeben an die Jugend. "Immer menschlich bleiben, jedem gegenüber und unter allen Umständen", so formuliert es Fisch. Die Würde des Überlebenden verleiht der Aussage Gewicht.

Auftritte von Zeitzeugen bleiben als Begegnung und Ereignis im persönlichen Gedächtnis der Nachwachsenden anders haften als Zahlen und Fakten im reinen Wissensgedächtnis, konzediert Assmann. Vielleicht helfen auch deren Bücher weiter.

Eine Gymnasiastin schrieb kürzlich einen Brief an Shlomo Graber, darin heißt es: "Ihr Buch lässt mich große Dankbarkeit spüren. Dankbar in einem nun demokratischen Deutschland leben zu dürfen. In Freiheit. Aber vor allem lässt es mich Dankbarkeit und Hoffnung spüren, dass es Menschen wie Sie gibt." Eine Einzelmeinung vielleicht.

Aber eine ermutigende in Zeiten, in denen Geschichtslehrer, die als Politiker auftreten, über eine "dämliche Bewältigungspolitik" herziehen und eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" fordern.

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