Zwei Entwicklungsstränge lassen sich in den vergangenen Jahren im Umgang mit der deutschen Erinnerungskultur an das Dritte Reich, seine Untaten und vor allem an den Holocaust beobachten. Die einen konstatieren oder beklagen das Ende der Ära der Zeitzeugen.
Diese rückt ganz notwendigerweise immer näher. Fast 78 Jahre sind seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs vergangen, 2017 jährt sich das Ende dieses globalen Zerstörungssturms zum 72. Mal. Die Zeitzeugen, die diese dunkle Zeit noch selbst als Jugendliche oder Erwachsene erlebt und durchlitten haben, werden immer weniger. Man denke nur an den Tod von Max Mannheimer im vergangenen Herbst.
Bis zum Alter von 96 Jahren war er als einer der prominentesten Holocaust-Überlebenden in Deutschland und einer der unermüdlichsten Mahner an die jüngeren Generationen im Namen der Erinnerung unterwegs gewesen. Seine zentrale Botschaft lautete: "Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon."
Nicht zuletzt Mannheimers Tod, dessen Lebensleistung auch von der Kanzlerin gewürdigt wurde, war dann wieder Anlass vom Ende der Zeitzeugen-Ära zu schreiben und sich die Frage zu stellen: Was kommt danach? Werden sich künftige Schülergenerationen vor ein Videogerät setzen und sich anhören, was Opfer (und Täter) erlebt haben in einer Zeit, die vielen inzwischen so fremd und vergangen erscheint wie das Mittelalter? Doch zum Trost: Es gibt sie noch, die Zeitzeugen, die etwas zu sagen haben.
Und dann gibt es den zweiten Entwicklungsstrang, der von einigen Historikern und Soziologen vertreten wird. Sie sagen, überspitzt formuliert: Es ist gar nicht so schlimm, wenn die Zeitzeugen aussterben.
Sie finden, man dürfe die Geschichte des Holocaust eben nicht von solchen Zeitzeugen vermitteln lassen, die ihre Geschichte immer mit dem Wissen dessen erzählen, der den Holocaust überlebt hat. Sie fordern eine Abkehr vom "historisch-moralischen Pathos (...), das im Kampf um die Erinnerung seine Berechtigung hatte, nun aber abgestanden und muffig geworden ist. Nicht vergessen zu sollen ist ein sinnloser Appell, wenn niemand vergessen will." (Harald Welzer, Dana Giesecke: Das Menschenmögliche: Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, 2013).
Ein Schüler fragte: "Hatten Sie Sex im KZ?"
Und während sich Pädagogen und Gedenkstätten vielerlei sinnvolle und weniger sinnvolle Gedanken gemacht haben, wie sie den - ja nicht überraschend kommenden - Übergang von der "heißen" zur "kalten" Erinnerung am besten meistern sollen, rügen die nächsten längst das rituell erstarrte Gedenken der Deutschen an den Holocaust. Nicht zuletzt der 27. Januar ist hier gemeint, der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee im Jahr 1945. Von "Memorymania" sprach etwa die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, andere vom "Erinnerungszwang".
Der 27. Januar, den der jüngst verstorbene Roman Herzog als Bundespräsident 1996 zum verbindlichen bundesweiten Gedenktag an die Opfer das Nationalsozialismus erklärt hatte, bietet Anlass für Gedanken zu drei Büchern, die jüngst erschienen sind und einen neuen Trend repräsentieren. Ganz im Sinne von Aleida Assmann: "Das Datum im Kalender entspricht keiner allgemeinen und gleichförmigen Erinnerungsverordnung, sondern bietet lediglich einen Erinnerungsanlass, den jeder und jede nach eigenen Interessen und Motivationen wahrnehmen kann." (Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, 2013)
Einer der durchaus vielen noch lebenden Zeitzeugen ist Shlomo Graber. Der inzwischen 90-Jährige hat 2015 seine Autobiografie ("Denn Liebe ist stärker als Hass") vorgelegt und daraus nun seine Jugend- und Leidenszeit während der NS-Herrschaft ("Der Junge, der nicht hassen wollte") ausgekoppelt.
Seit mehr als 25 Jahren ist Graber, der in der Schweiz lebt, in Schulen unterwegs und erzählt davon, wie er drei KZs und einen Todesmarsch überlebte, wie seine Mutter, vier Geschwister, Großmutter, Tanten und Onkel in Auschwitz vergast wurden, wie er den Glauben an einen gerechten Gott verlor. Dem Tages-Anzeiger erzählte er jüngst, wie es in so einer Schulstunde zugeht: "Da fragte mich ein 14-jähriger Junge als Erstes: Haben Sie viele Leichen gesehen? Und jemand fragte: Haben Sie Hitler gesehen? Und einmal fragte mich sogar ein Schüler: Hatten Sie Sex im Konzentrationslager? Die Jugendlichen sind sehr weit weg vom Thema."
Und genau aus diesem Grund schlägt Grabers Buch eine Brücke zwischen seiner persönlichen Erfahrung und dem bloßen Lernstoff, vom individuellen Leiden zu den sechs Millionen toten Juden. Die Barbarei bekommt so ein Gesicht, ebenso der Überlebenswille in Gestalt des 17-Jährigen und seines Vaters in Auschwitz.