Holocaust-Gedenktag:Politischer Rechtsruck beschäftigt Besucher von KZ-Gedenkstätten

Gedenkstätte Sachsenhausen

Eine Schülergruppe geht durch das Haupttor des ehemaligen Konzentrationslagers und heutigen Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg (Brandenburg).

(Foto: dpa)
  • Das Interesse an KZ-Gedenkorten in Deutschland ist in den letzten Jahren stark gewachsen.
  • Inzwischen besichtigen mehr als 2,5 Millionen Menschen pro Jahr allein schon die bekannteren deutschen KZ-Gedenkstätten.

Von Oliver Das Gupta und Irina Sandkuhl

Gerade zwei Jahre ist es her, dass Björn Höcke seinen Generalangriff auf die NS-Gedenkkultur gestartet hat. In seiner Dresdner Rede rief der Thüringer AfD-Chef im Januar 2017 dazu auf, etwas abzuschaffen, was zum gesellschaftlichen Selbstverständnis der Bundesrepublik gewachsen ist: Die Aufarbeitung der Verbrechen der Hitler-Diktatur sowie die Sichtbarmachtung und Würdigung der Millionen Opfer. Diese Gedenkkultur bezeichnete Höcke als "dämliche Bewältigungspolitik". Der AfD-Politiker forderte eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad".

Inzwischen sitzt Höckes Partei im Bundestag und allen deutschen Landesparlamenten, der Rechtsruck in der deutschen Politik ist manifest - und verstärkt möglicherweise einen Trend, der der Gedenkkultur zugutekommt. Denn das öffentliche Interesse an ehemaligen Konzentrationslagern und anderen Gedenkorten für NS-Opfer ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Diesen Trend bestätigten deutsche Dokumentationseinrichtungen auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung.

Die aktuelle politische Entwicklung wird dabei von einer wachsenden Anzahl der Besucher thematisiert. Gabriele Hammermann, die Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, spricht von wahrnehmbaren "Irritationen über zunehmende Grenzverletzungen in demokratischen Staaten". Bei Führungen fragten die Geschichtsinteressierten immer wieder nach Parallelen zur Gegenwart. "Formen von Ausgrenzung" seien bei den betreuten Geländegängen ein zentraler Aspekt.

Auch zur Gedenkstätte Neuengamme kommen immer mehr Menschen, die sich wegen antidemokratischer Tendenzen Sorgen machen. "Einige Besucher nennen die aktuelle politische Entwicklung als Beweggrund für ihren Besuch", sagt Iris Groschek von der Hamburger Gedenkstätte. Viele Leute kämen, um grundsätzliche Dinge über die NS-Zeit zu erfahren. "Nicht das Wissen um die NS-Diktatur und die Shoa ist gewachsen, sondern das Interesse der Menschen."

Sowohl in Dachau als auch in Neuengamme registriert man immer mehr Gäste aus dem Ausland. "Der Anteil der Hamburg-Touristen, die ihre Zeit in der Stadt auch zu einem Besuch in Neuengamme nutzen, ist zuletzt auf etwa 65 Prozent gewachsen", sagt Groschek. Manchmal kommen Besucher, deren Kreuzfahrtschiff in Hamburg angelegt hat. Die Leute kommen nicht, um ein Selfie zu machen, sondern weil sie sich wirklich für die Vergangenheit interessieren."

Gabriele Hammermann bestätigt diese Entwicklung auch für Dachau: Viele ausländische München-Touristen machen sich auf den Weg in die nördlich des Stadtrands gelegenen Gedenkstätte. Inzwischen kämen auch deutlich mehr Besucher aus asiatischen Ländern wie China, weshalb die Gedenkstätte auch Audio-Guides in Mandarin anbietet.

Inzwischen besuchen jedes Jahr durchschnittlich mehr als 2,5 Millionen Menschen die bekannteren deutschen KZ-Gedenkstätten Dachau, Neuengamme, Sachsenhausen, Bergen-Belsen, Flossenbürg und Ravensbrück und Buchenwald. Gedenkorte und Gedenkstätten können kostenlos besichtigt werden, darum geben die Einrichtungen die Anzahl der Besucher nur ungefähr an. Ein Überblick:

  • Die Dokumentationseinrichtung im ehemaligen KZ Neuengamme verzeichnet eine Verdoppelung der Besucherzahlen innerhalb von zehn Jahren. Besichtigten 2007 rund 61 000 Menschen das Lager nahe Hamburg, reisten 2018 mehr als etwa 138 000 in die Gedenkstätte und ihre Außenstellen.
  • Einen deutlichen Anstieg gibt es auch im brandenburgischen Ravensbrück, dem früheren größten Lager für Frauen und Kinder in Nazi-Deutschland. Zur örtlichen Mahn- und Gedenkstätte kamen 2008 bereits rund 100 000 Menschen, 2017 waren es etwa 110 000.
  • Eine ähnliche Entwicklung gibt es auch im oberpfälzischen Flossenbürg, in dem männliche und weibliche Häftlinge durch schwerste Zwangsarbeit in den Tod getrieben wurden. Die Besucherzahl der dortigen KZ-Gedenkstätte wuchs zwischen 2007 und 2019 von 64 000 auf fast 90 500.
  • Zum früheren KZ Buchenwald bei Weimar kamen im vergangenen Jahr 500 000 Geschichtsinteressierte, die dazugehörige KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora - auch ein Ort von brutaler Sklavenarbeit - besuchten mehr als 65 000 Menschen. In beiden Einrichtungen wurde "in den letzten Jahren ein leichter Anstieg der Gästezahlen" verzeichnet.
  • Die Gedenkstätte Sachsenhausen meldet eine Verdopplung der Besucherzahlen innerhalb eines Jahrzehnts: 2007 kamen bereits etwa 350 000 Besucher zum Gelände des früheren Konzentrationslagers nahe Berlin, 2017 waren es etwa 700 000.
  • In dem ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen in Niedersachsen wurde das Dokumentationszentrum 2007 eröffnet. Seitdem "stiegen die Besucherzahlen erheblich an", heißt es. Für 2018 wird die Besucherzahl auf 240 000 taxiert.
  • Die Gedenkstätte des KZ Dachau in Oberbayern vermerkt "im letzten Jahrzehnt ein stetig steigendes Besucherinteresse". In der Anlage nördlich von München, die in Nazi-Deutschland zum Vorbild für alle großen Konzentrationslager wurde, informierten sich im Jahr 2017 etwa 800 000 Menschen über die Vergangenheit. Damit ist die Gedenkstätte Dachau nach dem Königsschloss Neuschwanstein die meistbesuchte staatliche Einrichtung in Bayern.

Auch das Interesse an abgelegeneren, weniger bekannten Gedenkstätten ist konstant groß.

  • Die im Emsland gelegene KZ Gedenkstätte Esterwegen wurde 2011 eröffnet. Seitdem kommen jedes Jahr ungefähr 25 000 Besucher.
  • Den Bremer Gedenkort Bunker Valentin, in dem die Nazis KZ-Häftlinge und andere verschleppte Arbeitssklaven zu Tode schuften ließen, besuchten früher 3000 bis 5000 Interessierte im Jahr. Seit der Neugestaltung 2015 wuchs die Besucherzahl immens: Mittlerweile sind es etwa 30 000 Besucher im Jahr.
  • Seit der Eröffnung der Gedenkstätte Hannover-Ahlem 2014 besichtigen durchschnittlich etwa 13 000 Besucher die Ausstellung. Vergangenes Jahr lag die Besucherzahl bei 15 000 Menschen.
  • Die sächsische NS-Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein verzeichnete für das vergangene Jahr einen Besucherrekord. Insgesamt kamen rund 13 800 Menschen. Besonders erfreulich ist den Angaben der Einrichtung nach der deutliche Anstieg von interessierten Schulgruppen.

Alle neben der AfD im Bundestag vertretenen Parteien befürworten die staatlich finanzierte Gedenk- und Dokumentationsarbeit in früheren Tatorten der NS-Diktatur. Auch in der AfD gibt es Vertreter, die Höckes Meinung über die Gedenkkultur nicht teilen.

Dennoch scheinen seine Ansichten bei einem Teil des AfD-Apparates Anklang zu finden. Parteichef Alexander Gauland sprach davon, dass die NS-Zeit nur einem "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte gleiche.

Eine ähnliche Haltung ist mitunter auch in der AfD-Anhängerschaft wahrzunehmen. So störten im Juli 2018 mehrere Personen einer Besuchergruppe aus dem Wahlkreis von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel eine Führung durch die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Dabei seien "manifest rechte und geschichtsrevisionistische Einstellungen und Argumentationsstrategien erkennbar" gewesen, hieß es von Seite der Gedenkstätte. Demnach sei die Existenz von Gaskammern in Frage gestellt und Verbrechen der Nationalsozialisten verharmlost worden. Weidel war bei dem Vorfall nicht zugegen.

Zur SZ-Startseite

Oskar Deutsch im Gespräch
:"Als Heranwachsender fragte ich mich: Warum geht es immer gegen uns Juden?"

Der oberste Repräsentant der Juden in Österreich schildert, wie seine Familie die Erinnerung an den Holocaust verdrängt hat - und erklärt, warum er der Regierungspartei FPÖ die Distanzierungen vom Antisemitismus nicht abnimmt.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: