Süddeutsche Zeitung

Österreich:Kurz hat nie genug von der Macht

Ibiza, war da was? Der Ex-Kanzler schließt eine neuerliche Koalition mit der FPÖ nicht aus. Das Virus des Vergessens hat Österreichs Politik fest im Griff.

Kommentar von Peter Münch, Wien

"Genug ist genug", sprach Österreichs Kanzler Sebastian Kurz Mitte Mai - und beendete mit diesem Machtwort nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos die Koalition seiner ÖVP mit der FPÖ. Den Bruch des Regierungsbündnisses ließ Kurz als Befreiung erscheinen, und die Neuwahl verkaufte er als Mittel zur moralischen Erneuerung. Nur zehn Wochen später aber ist offenbar genug Zeit verstrichen, um eine Neuauflage dieser gescheiterten Allianz ins Auge zu fassen. Jedenfalls hat Kurz das nun im ORF explizit nicht ausgeschlossen. Genug kann wohl niemals genügen.

Die partielle Amnesie grassiert in Österreichs politischer Landschaft als ansteckende Krankheit - und sie wird nicht bekämpft, sondern mit Bedacht gepflegt. So konnte das Virus des Vergessens von der FPÖ, die vom skandalösen Auftritt ihres zurückgetretenen Vorsitzenden Heinz-Christian Strache in der Balearen-Soap schon lange nichts mehr wissen will, nun in Windeseile auch auf die ÖVP überspringen. Ins Kalkül nimmt Kurz dabei auch das Kurzzeitgedächtnis der Wähler. Und unter dem Strich beweist er nur, dass Politik doch immer mehr mit der Arithmetik der Macht als mit Moral zu tun hat.

Kurz verfolgt mit seiner Äußerung zwei Ziele

Schließlich muss nach dem Wahltag eine Koalition gebildet werden, und bei diesen Rechenspielen will sich Kurz möglichst alle Optionen offenhalten. Die Umfragen führt er so unangefochten an, dass er nach der Wahl die Auswahl haben dürfte zwischen mehreren potenziellen Koalitionspartnern. Aus der SPÖ dienen sich schon manche als Juniorpartner an. Ein solches Bündnis steht in Österreich nach den langen Jahren der großen Koalitionen jedoch im Ruch des Rückwärtsgewandten. Den Reiz des Neuen hätte eine Koalition der ÖVP mit den Grünen und/oder den liberalen Neos. Kurz könnte sich damit als Erneuerer feiern lassen, müsste sich aber auf reichlich Reibereien einstellen. Die größte inhaltliche Übereinstimmung ergibt sich halt nach wie vor bei einer Partnerschaft mit der FPÖ.

Dafür allerdings hat Kurz eine Bedingung gestellt: Herbert Kickl, der stramm rechte Ex-Innenminister, soll im Fall einer erneuten türkis-blauen Koalition keinen Kabinettsposten mehr bekommen. Damit verfolgt der ÖVP-Chef gleich zwei Ziele: Zum einen kann er eine mögliche Koalition mit der FPÖ minus Kickl zumindest als moralisch runderneuert erscheinen lassen. Zum anderen sät er Streit in der FPÖ, die sich im Zweifel zwischen Kickl und einer Koalitionsbeteiligung entscheiden müsste. Für den laufenden Wahlkampf ist das ein cleverer Schachzug. Aber natürlich sollte man nicht darauf wetten, dass diese Bedingung am Ende wirklich aufrechterhalten bleibt. Schließlich gilt in Österreichs Politik das Primat der Amnesie.

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