Kurras und 68:2. Juni 1967 - ein gesamtdeutsches Datum

Der Gründungsmythos der 68er wackelt: Der Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hat, war Kommunist.

Kurt Kister

Gedankenspiel: Ein hochrangiger Mitarbeiter des kubanischen Staatsarchivs setzt sich nach Miami ab. In seinem Gepäck hat er Dokumente, die belegen, dass Lee Harvey Oswald, Jahre bevor er John F. Kennedy erschoss, eine Verpflichtungserklärung als Mitarbeiter von Fidel Castros Geheimdienst unterschrieben hatte.

Kurras und 68: Der Student Benno Ohnesorg nach dem tödlichen Schuss des Kriminalbeamten Kurras, hier auf dem Passfoto seines SED-Mitgliedsausweises,  im Arm der Passantin Friederike Hausmann.

Der Student Benno Ohnesorg nach dem tödlichen Schuss des Kriminalbeamten Kurras, hier auf dem Passfoto seines SED-Mitgliedsausweises, im Arm der Passantin Friederike Hausmann.

(Foto: Foto: Ullstein - Henschel/AP)

Zwar bringt der Flüchtling aus Havanna keinen Beweis dafür mit, dass der Geheimdienst Oswald den Mord-Auftrag gegeben hat. Aber man weiß jetzt, dass Kennedys Mörder ein kubanischer Agent war. In den USA bricht eine Debatte aus, die über Monate die politische Klasse der Ostküste, die Verschwörungsfreaks in Montana und sämtliche Radio- sowie TV-Talkshows zwischen El Paso und Anchorage in Atem hält.

Und in Deutschland? Da wurde gerade - kein Gedankenspiel - bekannt, dass der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte, selbsterklärter Kommunist und SED-Mitglied war. Mehr noch, er hatte seit 1955 für die Stasi gearbeitet, die Verpflichtungserklärung liegt vor. Kurras war ein DDR-Agent. Nun ist Kurras zwar nicht Oswald, und Ohnesorg war auch nicht Kennedy. Aber so wie das Attentat auf Kennedy Amerikas Gesellschaft verändert hat, war auch Ohnesorgs Tod damals für die Bundesrepublik ein Ereignis von kaum zu übertreibender Bedeutung.

Und dennoch reagieren heute viele Veteranen und später berufene Sympathisanten der 68er-Bewegung auf die Enthüllung von Kurras' Vergangenheit so, als habe dies alles mit ihnen oder gar der von ihnen damals verfolgten Ziele nur wenig zu tun.

Privat-deterministische Geschichtsbetrachtung

Egal, ob Kurras Faschist, Sozialist oder beides war, so muss man etliche Aufsätze und Texte der vergangenen Tage verstehen, habe dies doch nichts geändert an den Vorgängen und an dem, was später passierte. Daraus spricht eine ebenso arrogante wie privat-deterministische Geschichtsbetrachtung: Es war alles so, wie wir heute denken, dass es war und eigentlich auch sein musste, denn sonst dächten wir heute ja nicht so.

In dieser Weltanschauung zählen nicht Motive und der geheime Dienstherr des Täters, sondern in erster Linie das Opfer. Und je weiter die Zeit nach der Tat fortschreitet, desto mehr wird auch aus dem Opfer nur ein Symbol, ein Märtyrer für die Sache. Die Sache aber wird von den Rückblickenden nach eigenem Gusto definiert. Ohnesorg war zu Lebzeiten beileibe kein Revolutionär. Im Tode ist er es geworden, durch jene Fotos, auf denen er in seinem Blut liegt, aber auch durch den DDR-Agenten Kurras.

Wahrscheinlich war es tatsächlich ein Zufall, dass ausgerechnet ein DDR-Agent im Westberliner Polizeizivil einen jungen Linken erschoss, und dadurch zu einer erheblichen Eskalation der politischen Situation im Westen beitrug. Wenn es so war, was nicht sicher ist, ist es trotzdem einer jener Zufälle, über die man sehr ausführlich reden muss, damit sie eben keinen Anlass bieten zu Verschwörungstheorien.

Zu diesem ausführlichen Reden gehört einerseits das Verhältnis der westdeutschen Protestbewegung zur DDR sowie zur dort praktizierten Stasi-Variante des Sozialismus. Andererseits ist aber auch eine offensive Analyse jener vielen Spielarten von "Linkssein" nötig, denen etliche Menschen zwischen Hamburg und Freiburg damals anhingen. Von einer aktiven Minderheit unter den 68ern und ihren Erben wurden die abstrusesten Gedankengebäude vertreten. Sie reichten von der unter gewissen Umständen zu rechtfertigenden revolutionären Gewalt im Inneren bis hin zur Wertschätzung des albanischen oder doch eher des chinesischen Kommunismus.

Das symbolische Datum 2. Juni

Nicht wenige ehemalige K-Gruppler sitzen heute noch an Schreibtischen mit großer Reichweite - in Ministerien, Firmen, Redaktionen. Sie sind geläutert, und sei es nur durch die Kraft jener ursprünglich nicht bei ihnen beheimateten Vernunft, welche die Zeitenwende von 1989/90 bewirkte. Einige von ihnen leben davon, sich öffentlich über dies alles Gedanken zu machen; wenige sind bei den Nazis gelandet; die meisten lächeln etwas unsicher über das, was sie euphemistisch für intellektuelle Jugendsünden halten. Viele von ihnen allerdings wollen sich bis heute nicht geirrt haben, jedenfalls nicht grundsätzlich.

Der Schah war böse, die Berliner Polizei bewusst gewalttätig und der Staatsapparat, je nach historischem Standpunkt, post- oder präfaschistisch. Auch 2009 wird zur Erklärung des 2. Juni 1967 noch gerne diese argumentative Einbahnstraße befahren. Vor 40 Jahren hieß es außerdem, dass der imperialistische Staat in der Gestalt von Kurras nun eben seine blutige Fratze gezeigt habe. Diese Fratze allerdings war nichts anderes als das Gesicht eines Berliner Kleinbürgers, der an der Verwirklichung des real existierenden Sozialismus teilhaben wollte. Hätten die Vorgesetzten von Kurras, sagen wir, 1966 von dessen SED-Mitgliedschaft erfahren, wäre er hochkant rausgeworfen worden.

Autoautoritärer Charakter und Waffennarr

Der Todesschütze Kurras erfuhr nach der Tat die Solidarität des Polizeiapparates und großer Teile des Bürgertums. Hätte man aber schon damals mitbekommen, dass der Todesschütze auch Kommunist war, wäre er als Handlanger Pankows vermutlich zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Die meisten Westdeutschen hätten gemutmaßt, dass Kurras von der Stasi instruiert worden war - auch wenn es dafür keine Beweise gegeben hätte. Und dann hätte sich zumindest der DKP-Flügel der westdeutschen Linken wiederum für Kurras als verfolgten Genossen eingesetzt...

Der nicht sehr helle Kurras ist offenbar ein autoritärer Charakter und Waffennarr. Mit diesen Eigenschaften findet man sich tatsächlich ganz gut in repressiven Milieus verschiedenster Prägung zurecht. Kurras empfand ähnliche Sympathien für seine engere Heimat, also die autoritäre Westberliner Immer-noch-Nachkriegs-Polizei, wie auch für sein Sehnsuchts-System, den 1967 gerade halbwegs entstalinisierten Unrechtsstaat DDR.

Vermutlich hätte er sich als Waffenmeister auch in der RAF zurechtgefunden. Die Todesschüsse von Charlottenburg jedenfalls gehören zu den Gründungsmythen der 68er. Mehr noch, der 2.Juni 1967 ist ein symbolisches Datum, das zur Identitätsbestimmung Deutschlands gehört. Bis vor kurzem dachte man, es gehe dabei in erster Linie um die Identität Westdeutschlands. Seit ein paar Tagen weiß man, dass auch Benno Ohnesorgs Tod ein gesamtdeutsches Datum ist.

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