Kurdische Stadt Kobanê:Auf verlorenem Posten

Militants advance just outside Kurdish town on Turkish border

IS-Kämpfer haben die Flagge der Terrormiliz auf einem Hügel im Osten von Kobanê gehisst (extremer Ausschnitt aus einer mit Teleobjektiv fotografierten Aufnahme)

(Foto: dpa)

Die Welt schaut auf die syrisch-kurdische Stadt Kobanê, wo sich die Kurden mit letzter Kraft gegen den Ansturm der Terrormiliz IS wehren. Doch wenn der Ort so wichtig ist, wie alle sagen, warum engagieren sich die Türkei und die USA dann nicht stärker? Und was genau wollen die Kurden?

Von Christiane Schlötzer, Tomas Avenarius und Nicolas Richter

Fällt Kobanê, oder halten die kurdischen Kämpfer dem Ansturm der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) doch noch stand? Am Dienstag übernahmen die Dschihadisten laut syrischen Menschenrechtsbeobachtern ein Industriegebiet sowie die östlichen Stadtteile Kani Araban und Makatal al-Dschadida. Gleichzeitig sei es den Kurden aber gelungen, IS-Kämpfer aus einigen Straßenzügen zu vertreiben. Es tobe ein Kampf um jedes Haus.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief in New York zum Schutz der Zivilbevölkerung auf. Die gibt es aber kaum noch: Fast alle Einwohner der Stadt, mehr als 170 000 Menschen, sind laut dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte aus Kobanê und Umgebung Richtung Türkei geflohen. In der Nacht auf Mittwoch kamen in der Türkei bei Demonstrationen für einen besseren Schutz von Kobanê mindestens 14 Menschen ums Leben. Fragen und Antworten zur Schlacht um die Grenzstadt von Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung.

Wie ist die Lage in der Türkei nach den nächtlichen Zusammenstößen zwischen Kurden und Islamisten?

Am Morgen nach den Protesten, die in vielen Städten im Südosten der Türkei stattfanden, werden die ersten der 14 Toten aus der Nacht beerdigt. In der größten Kurdenstadt Diyarbakir bleiben die Schulen geschlossen. Die Ausgangssperren in einigen Städten galten überwiegend für die vergangene Nacht. Was heute Nacht passiert, ist ungewiss. Es dürfte aber erneut zu Protesten kommen. Viele Kurden sind verzweifelt und wütend, weil sie sich angesichts des Dramas von Kobanê machtlos fühlen. Sie werfen der Regierungspartei AKP vor, den IS nicht daran gehindert zu haben, die Türkei als Rückzugs- und Durchgangsgebiet zu benutzen.

Zu den Protesten hatte die legale prokurdische Partei HDP aufgerufen, die enge Kontakte zur verbotenen militanten PKK hat. Auf die Straßen gingen offenbar aber auch Mitglieder einer islamistischen Kurdenpartei, der Hüda Par, die mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisieren soll. In Diyarbakir kam es dabei zu regelrechten Straßenschlachten, nach Angaben des Polizeichefs der Stadt starben auch fünf Mitglieder der Hüda Par, der kurdischen Hizbullah. In Mardin sollen zwei Demonstranten von Hizbullah-Leuten erschossen worden sein.

Warum rückt die Türkei nicht in Syrien ein?

Die Türkei besitzt die zweitgrößte Nato-Armee. An der Grenze zu Syrien in unmittelbarer Nähe der umkämpften Kurdenstadt Kobanê hat sie nun Dutzende Panzer auffahren lassen. Genaue Zahlen über die Truppenstärke im Grenzgebiet sind nicht bekannt, aber die Streitmacht ist groß genug, um Stärke und Verteidigungsbereitschaft zu demonstrieren. Auch Heereschef Hulusi Akar hat die Soldaten schon besucht.

Akar dürfte aus Ankara aber kaum den Befehl erhalten, mit seiner Truppe den schlichten Drahtzaun an der Grenze niederzuwalzen und nach Syrien vorzurücken. Premier Ahmet Davutoğlu hat zwar versprochen: "Wir werden alles nur Mögliche unternehmen, um den Menschen in Kobanê zu helfen." In einem Interview mit dem US-Sender CNN nannte Davutoğlu allerdings einen entscheidenden Vorbehalt: "Bodentruppen zu schicken ist aber natürlich eine andere Entscheidung." Wenn man in Kobanê eingreife, müsse man in ganz Syrien intervenieren, so Davutoğlu.

Damit ist klar, was Ankara verlangt: Die USA und ihre Verbündeten sollen nicht nur die Dschihadisten des IS bombardieren, sondern auch den Diktator Baschar al-Assad in Damaskus endlich aus dem Amt jagen. Assads Sturz ist das politische Ziel der türkischen Regierung unter Führung der islamisch-konservativen AKP seit Beginn des Bürgerkrieges vor mehr als drei Jahren. Eine US-Intervention gegen Assad in Syrien ist aber bislang nicht in Sicht. So laufen die Beistandsadressen Ankaras für die Kurden von Kobanê militärisch auch ins Leere.

Was wollen die Kurden?

In dramatischen Appellen hat sich die PYD, die Kurdenpartei in Kobanê, am Dienstag erneut an die Welt gewandt, ein "drohendes Massaker" in der Stadt zu verhindern. "Die internationale Gemeinschaft muss in Kobanê sofort handeln", erklärte die kurdische Kantonsregierung. Wer nachfragt, was die Kurden wollen, erfährt: Panzerbrechende Waffen und anderes schweres Gerät und zusätzliche Kämpfer. Aber keine türkischen Soldaten.

Die PYD und ihre gegen den IS kämpfende Volksmiliz YPG sind mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei verbündet. Als in der vergangenen Woche Meldungen auftauchten, der bereits seit 1999 inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan habe sich persönlich für eine türkische Intervention in Kobanê ausgesprochen, wurde dies sofort dementiert. Die PKK-nahe Zeitung Gündem zitierte am Dienstag Öcalan mit dem Satz: "Wir werden unendlichen Widerstand leisten." Das Blatt feierte eine Selbstmordattentäterin, die in Kobanê am Sonntag sich und mehrere IS-Kämpfer in die Luft gesprengt hatte. In vielen türkischen Städten gab es in der Nacht zum Dienstag Solidaritätsdemonstrationen für die Kurden von Kobanê und auch Straßenschlachten mit der Polizei. Dabei wurde die Parole gerufen: "Mörder IS - Kollaborateur AKP".

Warum lässt die Türkei kurdische Kämpfer nicht nach Kobanê?

Premier Davutoğlu und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan misstrauen trotz des vor eineinhalb Jahren begonnenen Friedensprozesses mit der PKK immer noch jeder Form von kurdischer Autonomie. Dass PYD und PKK quasi Schwesterparteien sind, reichte Ankara zuletzt schon für ein Waren-Embargo gegen die syrische Kurdenenklave. Daher stoppten Grenzer auch immer wieder kurdische Kämpfer, die nach Kobanê strebten. Andere aber haben es dennoch durch den Zaun geschafft, während Zehntausende Flüchtlinge aus der Stadt und den Dörfern der Region vor den Dschihadisten in die Türkei flohen. AKP-Politiker betonten zudem, die türkisch-kurdischen Bürger könnten durch den IS entführt werden, was wiederum dann ein Problem für die Türkei sei.

Erdoğan hat zudem vorgeschlagen, eine Schutzzone im syrischen Grenzgebiet zu errichten. Viele Kurden sind aber ebenfalls misstrauisch und fürchten, türkische Soldaten könnten als Besatzer auftreten. Eine solche Schutzzone aber müsste wohl nicht nur aus der Luft, sondern auch auf dem Boden verteidigt werden, wozu die westlich- arabische Allianz derzeit nicht bereit ist.

Was bedeutet die aktuelle Entwicklung für den Friedensprozess zwischen den Kurden und der Türkei?

Was aus dem Friedensprozess wird, ist offen. Die kurdische Arbeiterpartei PKK dürfte kaum, wie eigentlich geplant, nun rasch ihre Waffen abgegeben, weil sie die Kämpfer in Syrien unterstützt. Im Südosten der Türkei aber hat der faktische Waffenstillstand mit der PKK in der letzten Zeit schon eine große Entspannung im Alltagsleben bewirkt. Zudem hat die AKP-Regierung ja schon vor einer Weile das kurdische Sprachverbot abgeschafft. Heute sprechen alle Kurden in der Region selbstverständlich in aller Öffentlichkeit Kurdisch, die vielen Bürgermeister der Kurdenpartei ebenso. Weder die Kurden noch die Regierung wollen wieder zurück in alten Zeiten, als man schon für ein kurdisches Gedicht ins Gefängnis kommen konnte. Das spricht eher dafür, dass der Friedensprozess nicht beendet wird.

Warum bedeutet die Stadt den Kurden so viel?

Die Stadt und die Region darum herum waren bislang einer von drei quasi autonomen kurdischen Kantonen in Syrien. Im Juli 2012 hatten Kräfte der kurdischen Volksmiliz YPG zuerst in Kobanê Sicherheitskräfte des Assad-Regimes vertrieben. Im November 2013 erklärte die PYD für die drei nicht zusammenhängenden selbst verwalteten Kantone dann eine Autonomie unter dem Namen "Rojava". In den Kurdengebieten blieb es danach relativ friedlich, weshalb auch viele Menschen aus anderen Teilen Syriens, die bereits vom IS erobert wurden, dorthin flohen.

Warum ist Kobanê strategisch so wichtig?

Ein Blick auf die Landkarte verdeutlicht die Bedeutung von Kobanê oder Ain al-Arab, wie die nicht-kurdische Bevölkerung Syriens den Ort nennt. Die Stadt direkt an der türkischen Grenze bietet die Möglichkeit, Schmuggelgeschäfte zu kontrollieren und ausländische Kämpfer nach Syrien und in den Irak zu bringen, solange die türkische Regierung dies duldet. Zudem liegt die Stadt an einer Straße, die das westliche und das östliche Herrschaftsgebiet des selbsternannten Kalifen Ibrahim - alias Abu Bakr al-Bagdadi - verbindet.

Kobanê ist ein Scharnier zwischen den östlichen und den westlichen Gebieten, die der "Islamische Staat" ganz oder in Teilen kontrolliert. Im Osten erstreckt sich das Kalifat von Mosul im Nordirak und der davon südlich gelegenen Anbar-Provinz mit Falludscha und Ramadi nach Westen in Richtung Syrien. Jenseits der Grenze ist Rakka inzwischen so etwas wie die Hauptstadt des "Islamischen Staats".

Stark ist der IS auch in der südlich von Rakka gelegenen Provinz Deir al-Sor. Im Nordwesten Syriens bleibt aber Aleppo das Ziel der IS-Kämpfer. Die Metropole ist umkämpft zwischen Truppen des Assad-Regimes und den Rebellen. Allerdings sind auch die Rebellen gespalten; ein Teil von ihnen bekämpft gleichzeitig auch den IS. In Kobanê selbst hatte bisher die YPG-Miliz das Sagen. Diese Kämpfer sind syrische Kurden, die im Bürgerkrieg eine eigenartige Rolle spielen. Sie streben nach mehr Autonomie oder vielleicht sogar Unabhängigkeit. Sie haben mit dem Assad-Regime aber nie offiziell gebrochen, sich bisher arrangiert und oft auch gegen die Aufständischen gekämpft.

Warum helfen die USA den Kurden so zögerlich?

Viele der Kurden, die aus der syrischen Stadt Kobanê geflüchtet sind, fühlen sich von der amerikanischen Regierung verlassen. Warum, fragen sie, hat das US-Militär nicht mit viel mehr Angriffen aus der Luft die Milizen des "Islamischen Staats" zurückgeschlagen, so wie vor Monaten im Irak, als der IS die Jesiden verfolgte? US-Verteidigungsminister Chuck Hagel sagte dazu kürzlich bloß, die USA führten Gespräche mit der benachbarten Türkei, einem Nato-Verbündeten.

Ein Sprecher des Pentagon sagte, die USA müssten die ganze Region im Auge behalten, nicht nur einzelne Städte. Beobachter in Washington vermuten, dass sich die USA vorrangig noch immer auf den Irak konzentrieren möchten. Sie sehen sich dort als Helfer einer Regierung, die sie anerkennen, und einer irakischen Armee, die sie selbst aufgebaut haben.

In Syrien ist die Lage komplizierter: US-Präsident Barack Obama hat den Bürgerkrieg dort immer meiden wollen, den dortigen Diktator sieht er als Gegner, und am Boden kann er sich nicht auf eine verbündete Armee verlassen, sondern nur auf einige gemäßigte Rebellen. Die USA haben zwar das Hauptquartier des IS und diverse seiner Stellungen in Syrien angegriffen, aber sie möchten und können wohl auch nicht in jede Schlacht eingreifen.

Womöglich sieht Obama Kobanê auch als Gelegenheit, den türkischen Verbündeten stärker in die Pflicht zu nehmen, da die Stadt unmittelbar an der türkischen Grenze liegt. Die amerikanische Regierung hat immer betont, dass sie den Kampf gegen IS nicht allein als ihr Problem sieht, sondern als ein Problem aller Völker der Region. Die bisherige Zurückhaltung der Türkei hat das Weiße Haus zuletzt sehr frustriert.

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