Kurdische Proteste:Kobanê ist überall

Protest again Islamic State in Istanbul

Proteste gegen den "Islamischen Staat" in Istanbul: Die Polizei setzt Wasserwerfer ein, um die Demonstranten auseinanderzutreiben.

(Foto: dpa)

Die türkische Regierungspartei AKP hat viel für die Kurden im Land getan. Aber nun brennen in Istanbul wieder Busse, werden Atatürk-Statuen gestürzt, fliegen Molotowcocktails, gibt es Tote und Verletzte. Ist der Frieden vorbei?

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Der alte Kurde stützt sich auf einen Stock. Er starrt auf einen Fernseher, der auf einen kurdischen Nachrichtensender eingestellt ist. Zu sehen sind abwechselnd die Rauchsäulen über der umkämpften syrischen Kurdenstadt Kobanê und der Feuersturm, der in der Nacht zum Mittwoch über viele Städte im Südosten der Türkei hinweggefegt ist. 18 Tote und Hunderte Verletzte hat dieser kurdische Proteststurm hinterlassen - in der Türkei, nicht im syrischen Kriegsgebiet. Der alte Kurde sagt: "Ich komme aus Mardin." Dort gab es in der Nacht drei Tote.

Den Fernseher haben sie im Empfangszimmer der Istanbuler Zentrale der Kurdenpartei BDP aufgestellt. Er läuft den ganzen Tag. In dem Raum herrscht reges Kommen und Gehen, nur der Alte mit der weiten Pluderhose, wie sie kurdische Bauern, aber auch junge Kämpfer in Kobanê tragen, bewegt sich nicht. Die Jüngeren reden durcheinander, auf Kurdisch und Türkisch, der Alte kann nur Kurdisch. Damit wäre er vor nicht allzu langer Zeit mit einem halben Bein im Gefängnis gewesen.

Die seit 2002 regierende islamisch-konservative Regierungspartei AKP hat die alten Sprachverbote beseitigt, und auch sonst hat sich viel für die Kurden getan, seitdem die Regierung von Tayyip Erdoğan Ende 2012 begonnen hat, mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Chef der radikalen kurdischen Arbeiterpartei PKK, Friedensgespräche zu führen - nach 30 Jahren blutigen Ringens im Südosten des Landes. Aber nun brennen nachts wieder Stadtbusse in Istanbul, werden Atatürk-Statuen vom Sockel gestürzt, fliegen Molotowcocktails und Steine, es gibt Tote und Verletzte. Ist es also aus mit dem Frieden?

Viele Kurden suchen den Schuldigen für das Drama in Ankara

Im zweiten Stock der kurdischen Parteizentrale sitzt Emrullah Bingül, Chef der Istanbuler BDP, auf einer dunkelbraunen Kunstledercouch. Die BDP hatte zu den nächtlichen Protesten aufgerufen. Sie ist eine legale Partei, hat Abgeordnete im türkischen Parlament, aber sie steht politisch der weiterhin verbotenen PKK nahe. "Wir nehmen nur unser demokratisches Demonstrationsrecht wahr", sagt Bingül. Für die Gewalt macht er "Provokateure" verantwortlich, "aus der Polizei", aus rechten und islamistischen Gruppen, aber auch "die aufgestaute Wut" junger Kurden. "Wir können nicht alles kontrollieren."

"Jede Straße ist Kobanê", titelt die Kurdenzeitung Gündem. Auch das Blatt steht der PKK nahe. Andere kurdische Medien sprechen von "Serhildan", einer kurdischen Intifada, und schüren so das neue Feuer. Dies geht leicht, weil viele Kurden verzweifelt sind nach dem Vorrücken der Extremisten des Islamischen Staats (IS) in die syrische Kurdenenklave Kobanê. Sie fühlen sich hilflos angesichts eines drohenden Massakers vor der türkischen Haustür, und viele Kurden suchen den Schuldigen für das Drama dort, wo die alten Feinde standen: in Ankara. "Wir glauben, dass die AKP dem IS geholfen hat, mit Logistik, über die Grenze hinweg", sagt Bingül.

Die türkische Regierung hat solche Vorwürfe stets vehement zurückgewiesen. Aber sie konnte auch nicht erklären, warum in staatlichen Krankenhäusern behandelte IS-Kämpfer nicht sofort festgenommen wurden, sondern offenbar in den Krieg zurückkehren konnten. Das innenpolitische Klima in der Türkei ist erhitzt, auch AKP-Politiker gießen Öl in die Flammen. So twitterte der Istanbuler AKP-Abgeordnete Ismail Safi: Die "barbarische" Sprache der Kurdenpolitiker, die nun zu Demos aufriefen, werde "am besten vom IS verstanden". Die Kurden sollten, statt in Istanbul zu zündeln, lieber nach Kobanê gehen und kämpfen.

Die Angst vor einem großen Krieg

Letzteres würden viele Kurden wohl sogar tun, wenn die Grenzschützer sie ließen. "Unsere Kräfte warten in Afrin und Cizre", sagt Salih Muslim, einer der beiden Chefs der syrischen Kurdenpartei PYD, die wiederum mit der PKK verbunden ist. Afrin und Cizre sind die zwei anderen syrischen Kurden-Kantone, die zusammen mit Kobanê 2013 ihre Autonomie erklärten. Zwischen den Kurden-Enklaven steckt nun der Keil des IS. Deshalb wollen die kurdischen Kämpfer ihren Nachschub für Kobanê über die Türkei organisieren. Muslim sagte der türkischen Zeitung Hürriyet, Regierungsvertreter in Ankara hätten ihm zugesagt, sie würden den Kurden dies gestatten. "Aber dann haben sie mir wieder gesagt, es gibt Probleme."

Kurdische Proteste: SZ-Grafik: Hanna Eiden

SZ-Grafik: Hanna Eiden

Die PYD fordert auch panzerbrechende Waffen, aber kein Einschreiten der türkischen Armee. Die ist inzwischen in großer Stärke an der Grenze präsent, aber ohne Einsatzbefehl. Das türkische Parlament hat der Regierung vergangene Woche die Erlaubnis erteilt, das Militär nach Syrien und in den Irak zu entsenden. Die BDP hat gegen diesen Beschluss gestimmt. Dies tat auch die linke Opposition, die fürchtet, die Türkei könnte in Syrien "eine Art Vietnam" erleben. "Sollen unsere Soldaten wirklich gegen die syrische Armee kämpfen?", fragte die liberale Zeitung Milliyet und warnte, die Regierung sollte "die Türkei nicht in den syrischen Sumpf werfen".

Präsident Erdoğan hat eine Bodenoffensive in Syrien nicht ausgeschlossen. Er verlangte aber, eine solche Intervention dürfe sich nicht nur gegen den IS richten, sondern müsse auch den syrischen Diktator Baschar al-Assad aus Damaskus vertreiben. Zudem wolle die Türkei den Einsatz nicht allein übernehmen. Damit hat Erdoğan die Offensive eigentlich unmöglich gemacht. Denn bisher zeigt kein Verbündeter in der Anti-IS-Allianz die Bereitschaft zum Einsatz am Boden. Mit Beifall könnte Erdoğan bei einem Angriff auf Assad in der Türkei auch kaum rechnen. Es überwiegen die Ängste vor einem großen Krieg.

In der türkischen Kurdenmetropole Diyarbakır wurde am Mittwoch die Ausgangssperre bis Donnerstagmorgen verlängert. Die Schulen blieben geschlossen, zwei Flüge von Turkish Airlines in die Stadt wurden gestrichen. Panzer zogen auf. An den Straßenschlachten in Diyarbakır und in vielen anderen Städten im Südosten haben sich offenbar nicht nur linke Kurdenpolitiker beteiligt. Fünf Tote aus Diyarbakır sollen einer kleinen kurdischen Islamisten-Partei angehören, der Hürda-Par. In Mardin sollen zwei kurdische Demonstranten von Mitgliedern dieser kurdischen Hisbollah erschossen worden sein. Sie soll IS-Kontakte haben.

Am Mittwoch gibt es dann aber doch noch eine gute Nachricht: Die Kurden können in Kobanê die IS-Terroristen nach gezielten US-Luftschlägen zurückdrängen. Im BDP-Haus in Istanbul atmen ein paar Zuschauer vor dem Fernseher auf.

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