Süddeutsche Zeitung

Kurdische Demonstranten in der Türkei:Bloß nicht provozieren

Die Protestbewegung in der Türkei ist bunt. Auch Kurden wurden schnell ein Teil von ihr, waren aber trotzdem überraschend still. Sie stecken in einem Dilemma: Viele von ihnen hassen Erdoğan, aber sie brauchen ihn auch. Denn sie wollen Frieden.

Von Frederik Obermaier

Mittlerweile stehen sie überall, in der Küstenstadt Izmir, in der Hauptstadt Ankara, vor allem aber in Istanbul, auf dem Taksim-Platz: Männer und Frauen, minutenlang bewegen sie sich nicht, sie schweigen. Aus Protest gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Was als Protest gegen das Abholzen des Istanbuler Gezi-Stadtparks begann, ist mittlerweile eine Massenbewegung gegen Erdoğans autoritäre Herrschaft.

Für die meisten Türken war das Ausmaß der staatlichen Gewalt neu, die etwa 15 Millionen Kurden im Land sind Repression hingegen gewöhnt. Bei den aktuellen Protesten waren sie trotzdem - zumindest anfangs - überraschend still. Die Kurden stecken in einem Dilemma. Viele von ihnen hassen Erdoğan, aber sie brauchen ihn auch. Denn sie wollen Frieden.

Ministerpräsident Erdoğan ist möglicherweise der Mann, der das schaffen könnte. Nach Jahren des Krieges ist er auf dem besten Weg, den Konflikt mit der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK beizulegen. Viele Kämpfer haben die Türkei mittlerweile verlassen. Im Gegenzug sollen die Kurden in der Türkei mehr Rechte bekommen. Ein endgültiges Ende der Kämpfe war noch nie so nah.

"Sie wollen, dass der Friedensprozess weitergeht"

Ein geschwächter Erdoğan allerdings könnte die Kritiker einer Versöhnung stärken. "Und das wollen die Kurden verhindern", glaubt der Türkei-Experte Yasar Aydin von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. "Sie wollen, dass der Friedensprozess weitergeht."

Gleichzeitig wünschen sich viele Demonstranten, dass sich die protesterfahrenen Kurden stärker einbringen. "Wo sind die Kurden auf dem Taksim-Platz?", fragte vor nicht allzu langer Zeit der New Yorker. Tatsächlich waren die Kurden stets da, sie sind der internationalen Presse offenbar nur nicht aufgefallen. So war der selbsternannte Sicherheitschef des mittlerweile geräumten Zeltdorfs im Gezi-Park ein Kurde; und es war ein Vertreter der legalen Kurdenpartei BDP, der sich als Erster den Baggern in den Weg stellte, als die kamen, um Bäume auszureißen.

Das Bild von dem kräftigen Mann, der vor dem großen Bagger ganz klein wirkte, ging um die Welt. Sırrı Süreyya Önder ist mittlerweile eine Symbolfigur des Protests. Dass er Mitglied der Kurdenpartei ist, stört die wenigsten.

Die neu entstandene Protestbewegung ist bunt. Ob jemand Nationalist oder Anarchist, Christ oder Muslim, Fenerbahçe-Fan oder Anhänger des rivalisierenden Fußballklub Beşiktaş ist, spielt kein Rolle. Sie alle sehen sich nur als "çapulcu" - "Plünderer". So bezeichnen sie sich selbst, seit Premier Erdoğan sie so nannte.

Die Kurden wurden schnell ein wichtiger Teil der çapulcu. Kein Tag verging, an dem sie nicht auf dem Taksim-Platz standen, sangen und tanzten. Die BDP baute vor dem Gezi-Park einen kleinen Stand auf, Flaggen in den kurdischen Nationalfarben grün, gelb und rot wehten neben türkischen Fahnen. Plakate mit dem Konterfei von Kurdenführer Öcalan waren im Gezi-Park auffälligerweise jedoch nicht zu sehen. Offenbar wollten die Kurden nicht unnötig provozieren - nicht die Polizei, auch nicht die Nationalisten unter den Demonstranten.

Der Staat brauchte gar keinen solchen Auslöser, er griff dennoch an. Rund 130.000 Patronen Reizgas hat die Polizei verschossen. So viel, dass die Bestände mittlerweile fast leer sein sollen, Tränengas und Wasserwerfer bereits nachbestellt werden mussten. Die Bilder der Krawalle waren in den Augen vieler Beobachter die eines überreagierenden Staates. Den Protest konnte Erdoğan dennoch nicht stoppen. Vielmehr brachten die Demonstranten eines seiner wichtigsten Projekte zum Stillstand - das Projekt Machterhalt.

Erdoğan hoffte auf Stimmen - von der Kurdenpartei BDP

Der 59 Jahre alte Erdoğan regiert mittlerweile in der dritten Legislaturperiode, eine vierte Kandidatur erlauben ihm die Statuten seiner Partei nicht. Freilich könnte er diese ändern, "aber das würde an seiner Glaubwürdigkeit kratzen", sagt der Türkei-Experte Aydin. Erdoğan will daher die Verfassung ändern. Laut Gesetz ist derzeit der Ministerpräsident der starke Mann im Staat - also Erdoğan. Nach seinem Wunsch soll es aber künftig der Präsident sein - und der soll dann möglichst Erdoğan heißen.

Das Parteistatut müsste nicht geändert werden, er aber bliebe dennoch an der Macht. Der einzige Haken: Für eine Verfassungsänderung fehlen Erdoğans AKP ein paar Stimmen - und die, so hatte Erdoğan bislang gehofft, sollten von der legalen Kurdenpartei BDP kommen.

Doch dann kam der Gezi-Protest - PKK-Chef Öcalan meldete sich aus dem Gefängnis zu Wort. Er unterstütze die Demonstrationen, hieß es. Erdoğan hieß den Kurdenführer daraufhin einen "Terroristenführer", so wie früher. An eine Verfassungsänderung allein mithilfe der BDP glaubt Erdoğan nach eigenen Angaben mittlerweile nicht mehr.

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SZ vom 20.06.2013
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