Kurdenkonflikt in der Türkei:"Europa muss der Türkei die rote Karte zeigen"

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Feleknas Uca, Abgeordnete der HDP (Foto: Die Linke)

Im Kurdenkonflikt liegt der Ball jetzt bei der türkischen Regierung, sagt Feleknas Uca. Die Kurdin wuchs in Celle auf und sitzt heute für die prokurdische HDP im türkischen Parlament.

Interview von Luisa Seeling

Feleknas Uca ist jesidische Kurdin und hält sich zur Zeit in Diyarbakır auf - der "Kurdenhauptstadt" der Türkei. In den letzten Wochen ist der Kurdenkonflikt im Südosten des Landes wieder aufgeflammt, das Militär geht mit einer Großoffensive gegen bewaffnete Kurden vor. Vielerorts wurden Ausgangssperren verhängt; auch Sur, ein Viertel in Diyarbakır, ist seit fast einem Monat abgeriegelt. Die deutsch-türkische Politikerin, 39, ist Tochter kurdischer Gastarbeiter und wuchs in Celle in Niedersachsen auf. Bei den Wahlen am 1. November zog sie für die pro-kurdische HDP ins türkische Parlament ein.

SZ: Frau Uca, seit fast 30 Tagen gibt es in der Altstadt von Diyarbakır eine Ausgangssperre. Wie erleben Sie die Situation?

Feleknas Uca: Ich befinde mich in der Nähe von Sur, dem Viertel, das abgeriegelt ist. Die Menschen brauchen Hilfe. Es gibt kaum Lebensmittel vor Ort, es fehlt an Wasser, Strom, an medizinischem Beistand. Ärzte und Krankenpfleger werden nicht durchgelassen. Es wird weiterhin gekämpft. Heute früh wurde eine Zugangsstraße geöffnet, die Straße von Gazi, aber ich glaube, das ist nur vorübergehend.

Gehen die Menschen trotz der Gefahr weiterhin auf die Straße?

Gestern sind in Diyarbakır Tausende Menschen zusammengekommen, um zu protestieren. Wie bei früheren Demonstrationen hat die Polizei Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt. Es gab außerdem einen Marsch, 60 Kilometer von der Stadt Bismil nach Diyarbakır. Ich war auch dabei. Auf halber Strecke wollte die Polizei die Menschen nicht durchlassen, wir mussten mit dem Gouverneur und seinen Leuten verhandeln, dann durften wir weiter. Morgen wird es wieder eine Kundgebung geben.

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Wer kämpft denn dort gegen die Armee? Sind das PKK-Kämpfer?

Nein, das sind Einwohner, die sich schützen. Sie haben Barrikaden aufgebaut, um die Sicherheitskräfte von den Stadtvierteln fernzuhalten, damit sie dort kein Massaker anrichten. Es wird übrigens nicht nur dort gekämpft, wo es Barrikaden gibt. In Mersin zum Beispiel gibt es keine Barrikaden - und dort wurde am Montag wieder ein Jugendlicher erschossen. Auch in Van gibt es keine Barrikaden - aber die Polizei geht gegen Kundgebungen vor oder greift die Bevölkerung an.

Die Regierung sagt: Die Barrikaden und die Gewaltbereitschaft militanter Kurden waren zuerst da. Aus diesem Grund müsse die Armee in den Städten gegen die PKK vorgehen.

Als Abgeordnete, die vor Ort ist, sage ich, dass die Barrikaden erst errichtet wurden, als die Übergriffe der Polizei und die Festnahmen immer mehr zugenommen haben. Sie sind eine Reaktion auf Übergriffe der Sicherheitskräfte und den Abbruch der Friedensgespräche. Es war der Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, der gesagt hat, dass er die Friedensverhandlungen nicht anerkennt. Er hat den Zehn-Punkte-Plan, der im Februar formuliert wurde, ablehnt. Seitdem gibt es massive Übergriffe seitens der Sicherheitskräfte. Nicht nur kurdische Stadtviertel sind betroffen - auch Journalisten, Friedensaktivisten. Tausende Menschen sind verhaftet worden.

Sie sagen, in den verbarrikadierten Stadtvierteln gebe es keine PKK-Kämpfer...

Das sind Einwohner, das sind Jugendliche.

Aber es gibt Berichte, dass auch Mitglieder der PKK-nahen Jugendorganisation YDG-H die Barrikaden verteidigen. Dass sie gewaltbereit sind, Sprengfallen legen - und so mit an der Eskalationsspirale drehen.

Nun, wir dürfen in diese Stadtviertel nicht hinein. Es ist also schwer zu sagen, wer da kämpft. Aber soweit wir wissen, stehen an den Barrikaden in Cizre und in anderen Städten Einwohner, auch Frauen und Kinder. Wenn die Barrikaden nicht wären, dann wären die Panzer längst in die Viertel eingedrungen und hätten alles zerstört. Was die Berichte angeht, so müssen wir aufpassen. Pressefreiheit ist in der Türkei nicht viel wert. Wir müssen genau unterscheiden, welche Informationen stimmen und was Propaganda ist.

Können Journalisten in die Sperrzone hinein?

Es gibt einige kurdische Journalisten in der Sperrzone. Aber es gibt auch die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı, die das Militär begleitet. Ein Beispiel: In Diyarbakırs Altstadt brannte die Moschee. Wir haben den ganzen Tag versucht zu erreichen, dass die Feuerwehr anrücken darf, doch man hat es uns untersagt. Anadolu Ajansı war währenddessen dort und hat Bilder gemacht. Wie kann das sein? Später gab es in den sozialen Netzwerken Videos, die belegten, dass aus einem Helikopter geschossen wurde und die Moschee deshalb in Brand geriet.

Am Wochenende hat der Kovorsitzende Ihrer Partei, Selahattin Demirtaş, gesagt, die Kurden müssten sich entscheiden, ob sie nach Autonomie streben oder "unter der Tyrannei eines Mannes" leben wollen - gemeint war der Präsident. Heizen kurdische Autonomieforderungen in der jetzigen Situation den Konflikt nicht noch zusätzlich an?

Es geht ja nicht um Autonomie. Es geht um Selbstverwaltung. Demirtaş hat nicht Autonomie gefordert, sondern gesagt, die Leute sollen selbst entscheiden dürfen. Warum können wir nicht von Selbstverwaltung sprechen, wenn doch die Türkei selbst die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung unterzeichnet hat? Wenn aber heute über Selbstverwaltung gesprochen wird, dann wird gleich ein Verfahren eingeleitet - wie jetzt gegen Demirtaş. Dabei gehörte Selbstverwaltung zu den Punkten, über die gesprochen wurde, als Regierung und PKK über eine Lösung des Konflikts verhandelt haben. Selbstverwaltung sollte eine Grundlage der neuen Verfassung sein.

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Die Regierung wirft der HDP vor, sich nicht genug von der Gewalt der PKK zu distanzieren. Rückt Ihre Partei von ihren Positionen ab?

Nein. Vor der Juni-Wahl wie auch vor der Wahl am 1. November ist die Position der HDP immer dieselbe gewesen: Es gibt keinen anderen Weg als den des Friedens, am Ende wird man den Friedensprozess wieder in Gang bringen müssen. Bloß tut die Regierung gerade das Gegenteil. Sie verhandelt nicht mit den Kurden, sondern betreibt Staatsterror - so muss man es wirklich nennen. Die HDP hat in den vergangenen Monaten immer wieder an die Regierung appelliert, das zu ändern. Aber die ist nicht dazu bereit. Gerade erst hat sie Gespräche mit der HDP abgesagt, die heute stattfinden sollten.

Was müsste passieren, damit es zu einem Waffenstillstand kommt?

Die Regierung müsste das Militär aus der Region abziehen und die Ausgangssperren aufheben. Ankara müsste sich bereiterklären, wieder zu verhandeln - also da weiterzumachen, wo wir aufgehört haben: bei dem Zehn-Punkte-Plan, auf den sich Regierung und Kurden geeinigt hatten. Das wäre die Grundlage für eine neue Verfassung. Die PKK hat guten Willen gezeigt, sie hat in der Zeit vor den Wahlen am 1. November einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen und eingehalten. Der Ball ist jetzt im Feld der türkischen Regierung.

Was sollte die internationale Gemeinschaft tun, insbesondere die EU?

Die Türkei ist ein Beitrittskandidat. In den Gesprächen darf es nicht nur um Flüchtlinge oder wirtschaftliche Zusammenarbeit gehen. Europa muss viel mehr Druck auf Ankara ausüben, damit die Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden. Außerdem sollten EU-Vertreter nach Diyarbakır kommen, um zu verstehen, was hier passiert. Und: Die Türkei ist auf keinen Fall ein sicheres Herkunftsland. Hier werden Menschenrechte verletzt, Zivilisten getötet, Panzer stehen in den Städten. Europa muss der Türkei die rote Karte zeigen.

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