Der Westen und die Kurden:Und keiner steht auf

Kurden demonstrieren in Berlin

Kurden demonstrieren Anfang November gegen den Einmarsch der türkischen Armee in Syrien. Wo bleibt dabei die europäische Solidarität, fragt der italienische Schriftsteller Mario Fortunato.

(Foto: dpa)

Die Vertreibung der Kurden aus Nordsyrien ist eine humanitäre Katastrophe. Dass die Europäer darauf so passiv reagieren, zeigt den Niedergang der öffentlichen Moral im Westen.

Gastbeitrag von Mario Fortunato

Einmal waren wir alle, viele von uns jedenfalls, für Ho Chi Minh. Für Algerien. Für die Sicherheit der anderen. Aber heute will keiner von uns Kurde sein. Erinnern wir uns, wie in den Unruhen von 1968 die Sorge um Menschen, die in der Ferne litten und uns doch nahestanden, Hunderttausende Demonstranten auf die Straße trieb.

In diesen Herbstwochen des Jahres 2019 dagegen wird das kurdische Volk bombardiert, jenes Volk, das uns entscheidend vor der fundamentalistischen Gefahr des sogenannten Islamischen Staates gerettet hat und das die Terroristen unter Kontrolle brachte und dann bezwang, die auf Pariser Bürger, Berliner Weihnachtsmarktbesucher oder Londoner Passanten Anschläge verübten. Und niemandem von uns in Europa fällt es ein, die Kurden zu unserem Brudervolk zu erklären, und sei es auch nur aus Dankbarkeit.

Die Terrormiliz Islamischer Staat hat uns - wer wollte es leugnen - Angst eingejagt, sie hat uns terrorisiert. Ihr gerade erst ums Leben gekommener Anführer, der sich während eines US-Angriffs selbst in die Luft sprengte, der stets wie eine Witwe gekleidete, monströse kleine Abu Bakr al-Bagdadi, wirkte wie aus mittelalterlichen Albträumen entsprungen. Man denke nur an die grausamen Videoaufnahmen des IS, die zeigten, wie amerikanische und britische Geiseln enthauptet wurden. Oder man denke daran, wie Männer von Hochhäusern gestoßen und deswegen ermordet wurden, weil sie ihresgleichen liebten. Oder an die öffentlichen Steinigungen, das Musikverbot, den massiven Konsum von Crystal Meth durch die fundamentalistischen Milizen.

Wenn dies alles von einem gewissen Zeitpunkt an aus den Hauptschlagzeilen verschwand, wenn der Islamische Staat irgendwann nur noch recht weit hinten in den Zeitungen auftauchte, dann haben wir das vor allem ihnen zu verdanken, den Kurden.

Was sie dazu trieb, die Terrormiliz erfolgreich zu bekämpfen, war nicht zuletzt die Hoffnung, von amerikanischer und europäischer Seite Unterstützung für die Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates zu erhalten, dem sich die Türkei, unser alter Verbündeter, seit jeher widersetzt. Wie wir alle wissen, ist die Sache anders verlaufen.

Die Kurden besiegten den IS im Namen und im Auftrag der westlichen Demokratien, die eines seiner ersten Opfer waren, und im Gegenzug zogen sich diese westlichen Demokratien, allen voran die USA des Donald Trump, aus Syrien zurück und überließen die Kurden der Gnade des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Den Rest der Geschichte kennt man aus den Nachrichten der vergangenen Wochen: das Ende aller Träume von einer autonomen Kurden-Nation, stattdessen Bombardierung und Vertreibung. Hier verzweifelte Soldaten, die für ihre Heimat und Kultur kämpfen, dort der niederträchtige und unerbittliche Despot Baschar al-Assad, der den Einsatz chemischer Waffen befiehlt und die Zivilbevölkerung massakriert. Dazwischen die USA, deren Außenpolitik von einem Ignoranten verantwortet wird, und ein Europa, das von der Furcht vor einer Flüchtlingsinvasion derart besessen ist, dass es Geschenke an jeden verteilt, der verspricht, sie zu verhindern oder einzudämmen.

Aber es gibt Anlass, fröhlich zu sein, weil wir Deutschen, Italiener, Franzosen, Spanier und anderen Europäer unsere Grundsätze von Loyalität, die ohnehin nur part time gelten, zum Teufel geschickt haben, um uns - während anderswo Massenvertreibungen stattfinden - tief über unsere rosigen Bauchnabel zu beugen, denen wir uns gerne full time widmen.

Man denke nur an Großbritannien. Wir alle verdanken diesem Land die Befreiung vom Nazi-Faschismus. Dieses Land stiftete das Modell der liberalen Demokratie, das in der modernen, westlichen Welt erfolgreich war. Dieses Land schenkte uns Shakespeare, Virginia Woolf und die Beatles (ganz zu schweigen von Coldplay). In diesen Tagen und Wochen haben sich in Großbritannien die Demonstrationen geradezu überschlagen: London wurde noch nie von so vielen Protestmärschen geprägt wie in jüngster Zeit.

Hat sich irgendjemand bei diesen zahllosen Kundgebungen auch nur eine Sekunde lang um das unter Beschuss genommene kurdische Volk geschert? Kein Gedanke. Man protestierte für den sofortigen Austritt aus der Europäischen Union oder für den Austritt zu einem späteren Zeitpunkt oder für gar keinen Austritt, wer blickt da noch durch. Man protestierte gegen die jüngere Ausgabe von Donald Trump in der Downing Street oder für sie. Was wäre besser: Wahlen? Keine Wahlen? Ein zweites Referendum? Vor dem Abendessen? Nach dem Abendessen? Was für ein unwürdiges, infantiles und egozentrisches Spektakel.

Und in Rom? Sind etwa in Rom die Studenten und Intellektuellen auf die Straße gegangen oder ist die berühmte Zivilgesellschaft aktiv geworden, um mit den armen, von den Türken bombardierten und von uns allen verratenen Kurden wenigstens eine Spur von Solidarität zu zeigen? Von wegen. Wer jung ist, kümmert sich heute ausschließlich um das Klima. Die Welt muss gerettet werden! Als ob irgendjemand apertis verbis das Gegenteil propagieren würde: Los, lasst uns den Planeten unbewohnbar machen, lasst ihn uns komplett zerstören! Mir erscheint, dass viele junge Menschen heute nicht mit Konflikten umgehen können. Wenn sie demonstrieren, dann tun sie es, um Dinge zu unterstützen, die sogar meine Katze unterschreiben würde. Sie sind den Konsens gewohnt, das schnelle Lob, den billigen Erfolg. Ihre Wirklichkeit ist von Handys und Likes geprägt. Da wirkt die Welt vielleicht irgendwann wie eine Art Videospiel, aus dem man jederzeit aussteigen kann.

Noch nie lag die Oberflächlichkeit der öffentlichen Meinung so auf der Hand

Und wenn einige wenige Hundert Kilometer entfernt ihre Altersgenossen völlig rechtlos sind, falls sie nicht gleich bombardiert werden, weil ein mittelmäßiger Autokrat namens Erdoğan seine Omnipotenzfantasien ausleben will, begreifen unsere jungen Leute nicht einmal, dass all diese Vorgänge auch für ihr Leben verheerende Folgen haben können.

Die massenhafte Vertreibung und Vernichtung des kurdischen Volkes sind nicht nur eine weitere humanitäre Katastrophe. Sie halten vor allem unserer Schwäche einen Spiegel vor. Selten lagen der Mangel an Moral und die Oberflächlichkeit unserer sogenannten öffentlichen Meinung so auf der Hand wie in diesen Wochen. Es ist ein halbes Menschenleben her, da wurde der Krieg in Vietnam durch Ho Chi Minhs Partisanen beendet, und auch durch das Bewusstsein der westlichen Zivilgesellschaft. Rein rechnerisch sind seitdem etwas mehr als 40 Jahre vergangen, historisch betrachtet scheinen es 400 zu sein. Denn während damals eine von diesem Land weit entfernte Öffentlichkeit einen klaren Standpunkt bezog, hat die heutige überhaupt keinen Standpunkt mehr.

Heute sind wir alle stumpf. Und taub. Und tot wie Gespenster. Gespenster aber haben kein Gewicht und keinen Körper. Unsere Epoche ist die Epoche der Gehaltlosigkeit.

Mario Fortunato, Jahrgang 1958, ist Schriftsteller und lebt, nach Jahren in London und Berlin, wieder in Rom. Aus dem Italienischen von Jan Koneffke.

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