Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Taliban weiten mit enormer Geschwindigkeit Einfluss aus

Die Islamisten haben nun auch die afghanische Stadt Kundus eingenommen. Die Kritik an der deutschen Bundesregierung wächst, weil sie den ehemaligen Ortskräften der Bundeswehr zu wenig hilft.

Von Tobias Matern und Mike Szymanski

Im Kampf um die Macht in Afghanistan haben die Taliban ihre Offensive deutlich ausgeweitet. Die Islamisten eroberten am Sonntag die Stadt Kundus in der gleichnamigen Provinz im Norden des Landes. Entsprechende Aussagen der Taliban bestätigte der Provinzrat von Kundus, Ghulam Rabani Rabani, der Süddeutschen Zeitung am Sonntag. "Die Stadt Kundus inklusive aller Einrichtungen für die Provinz ist an die Taliban gefallen", sagte er. Nur noch in einer Ecke der Stadt werde von Sicherheitskräften Widerstand geleistet. Ein Zivilist aus Kundus, der auf Anonymität bestand, bestätigte die Angaben.

Kundus, das zum Einsatzgebiet der Bundeswehr gehörte, war schon einmal an die Taliban gefallen und konnte von den Sicherheitskräften zurückerobert werden. Nach Angaben aus Kabul am Sonntag sei eine Gegenoffensive der Regierungstruppen angelaufen. Seit der Westen seinen Einsatz in Afghanistan weitgehend abgewickelt hat, weiten die Taliban mit enormer Geschwindigkeit ihren Einfluss aus. Sie kontrollieren deutlich mehr als die Hälfte des Landes. Appelle der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der USA, die Gewalt gegen Zivilisten einzustellen, haben sie ignoriert.

Die US-Botschaft in Kabul forderte am Wochenende alle amerikanischen Bürger auf, das Land unverzüglich zu verlassen. Schon vor dem Fall von Kundus waren drei Provinzhauptstädte an die Taliban gefallen. Am Freitag gaben sie zudem bekannt, einen Regierungssprecher in Kabul erschossen zu haben. Am Dienstag hatten sie einen Anschlag auf das Haus des Verteidigungsministers verübt, bei dem 13 Menschen starben.

Der Bundesregierung "ist der moralische Kompass völlig verloren gegangen"

Empörung löst unterdessen der Umgang der Bundesregierung mit den Ortskräften aus, jenen Afghanen, die der Bundeswehr, dem Auswärtigen Amt, dem Entwicklungshilfe- und dem Innenministerium bei ihrer Arbeit in dem Land geholfen haben - als Dolmetscher, Fahrer oder Köche. Sie fürchten nach dem Abzug der Bundeswehr die Rache der Taliban. Nach Angaben der Bundesregierung verfügten Ende Juli 2851 Personen über fertige Dokumente für die Ausreise, bislang sind trotz eines Appells von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), den Ortskräften zu helfen und "einen Ausweg" aufzuzeigen, nur 1796 in Deutschland angekommen.

Marcus Grotian, Vorsitzender des "Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte" warf der Bundesregierung vor, ihr sei "der moralische Kompass völlig verloren gegangen". Noch immer warteten zahlreiche Ortskräfte darauf, dass ihr Visumsprozess überhaupt beginne. Kritik an der Bundesregierung übte auch Wolfgang Hellmich (SPD), der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Er sieht die Helfer den Taliban "ausgeliefert". Der SZ sagte er: "Was ist denn das für eine irrwitzige Vorstellung, dass sich die Familien auf den Weg machen, das Verfahren bewältigen und sich selbst die Flüge buchen? Wenn ich auf die Karte schaue, sehe ich, wie die Taliban die Städte einkesseln."

Laut ZDF haben sich deutsche Diplomaten kürzlich mit der politischen Führungsriege der Taliban in Doha getroffen. Die Taliban hätten versichert, sich für den Schutz der Ortskräfte einzusetzen. Die Deutschen trauen der Zusicherung dem Sender zufolge aber nicht.

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