Kundus-Affäre:Terrain der Lügen

Nach den jüngsten Enthüllungen zu den Luftangriffen nahe Kundus entpuppt sich die Informationspolitik von Verteidigungsministerium und Kanzleramt als unentschuldbare Irreführung. Der Regierung Merkel steht eine schwere Stunde bevor.

Stefan Kornelius

Der "Nebel des Krieges" ist eine gerne, erstmals von Clausewitz gebrauchte Metapher, um die Unwägbarkeiten auf dem Gefechtsfeld zu erklären. Beschrieben wurde so zum Beispiel die Situation, dass eigene Truppen den Gegner nicht beobachten konnten, dass also kein Späher die feindliche Seite auskundschaftete. Auf der Sandbank von Kundus herrschte demnach sehr dichter Nebel.

Merkel, Guttenberg, Reuters

Kanzlerin Merkel und ihr junger Verteidigungsminister Guttenberg: Die Koalition steht vor schweren Stunden.

(Foto: Foto: Reuters)

Was sich aber danach abspielte, bei der Erkundung und Aufklärung des bisher folgenreichsten Kriegseinsatzes der Bundeswehr, hat vor allem mit politischer Vernebelung zu tun. Dieser Nebel löst sich nun auf, und er gibt den Blick frei auf ein gewaltiges Terrain der Lügen, das der Bundestag mit seinem Untersuchungsausschuss zu vermessen haben wird. Die zweite Regierung Merkel steht vor einer schweren Stunde.

Am 4.September befahl ein deutscher Oberst einen Bombenabwurf am Kundus-Fluss, bei dem bis zu 142, wahrscheinlich aber etwa 100 Menschen, getötet und zwei funktionsuntüchtige Tankfahrzeuge zerstört wurden. Unter den Toten befanden sich 60 bis 80 Taliban-Kämpfer und vier ihrer Anführer sowie 30 bis 40 Zivilisten. Seit dem Bombardement herrscht, rein militärisch betrachtet, relative Ruhe in der Gegend.

Eine unentschuldbare Irreführung

Nach dem Angriff verbreiteten die Bundesregierung, die Kanzlerin (der damals großen Koalition), ihre Minister und Sprecher die Interpretation, der Angriff habe den Tankfahrzeugen gegolten, weil von ihnen Gefahr für das Militärlager Kundus ausgegangen sei. Das war eine unentschuldbare und politisch noch nicht genug bestrafte Irreführung. Die Bomben galten nicht den Fahrzeugen, sondern den Taliban-Kämpfern. Ziel war die Tötung möglichst vieler Feinde, die in den Wochen zuvor die Bundeswehr regelmäßig angegriffen hatten, ebenfalls mit dem Ziel, möglichst viele Soldaten zu töten. Landläufig heißt so etwas Krieg.

Durfte der deutsche Oberst die Tötung der Feinde befehlen? Andere Nationen - Frankreich, Großbritannien, die USA - stellen sich diese Frage nicht. In einem "nicht-internationalen bewaffneten Konflikt", vulgo: Krieg im Inneren, sind deren Truppen Konfliktpartei auf der Seite der legitimen afghanischen Regierung, die um die Hilfe ersucht hat. Diese Hilfe wird ihr im UN-Mandat und im ISAF-Mandat rechtlich zugestanden. Beide Mandate erlauben eindeutig den Einsatz von Gewalt gegen Aufständische.

Damit ist es nicht getan. Jede Nation hält sich wiederum an eigene Einsatzregeln, um dem eigenen Militär Grenzen zu setzen - gleichsam ein Rahmen im Rahmen. Deutschland folgte lange Zeit defensiven Regeln und reduzierte den Einsatz von Waffengewalt auf Gefahr im Verzug und eine unmittelbare Bedrohung. Nach dem Tod mehrerer Soldaten im Frühjahr wurden die Regeln geändert. Nun kann auch die Bundeswehr offensiv vorgehen. Allerdings gelten Regeln der Verhältnismäßigkeit. Sie sind genau definiert, werden aber aus taktischen Gründen geheim gehalten. Angesichts des Desasters müssen sie offengelegt werden, weil sich sonst keine umfassende rechtliche Beurteilung anstellen lässt.

Abgesehen davon gelten in Afghanistan die taktischen Weisungen des Isaf-Kommandeurs, also des (amerikanischen) Oberbefehlshabers der internationalen Schutztruppe. Gegen diese Weisungen hat der deutsche Oberst in jedem Fall verstoßen. Schon deshalb muss gegen ihn disziplinarrechtlich ermittelt werden.

Jenseits der rechtlichen Beurteilung gibt es die politische Dimension: Im Moment fällt jenes Lügengebäude in sich zusammen, das seit Beginn des Afghanistan-Engagements im Jahr 2001 errichtet worden war. Der von Berlin als Stabilisierungs- oder Aufbaumission apostrophierte Einsatz findet im Kriegsgebiet statt. Nicht erst seit dem Frühjahr ist auch die Bundeswehr tief in den Krieg verstrickt. Die Bundesregierungen - Rot-Grün zu Beginn, dann die große Koalition, jetzt Schwarz-Gelb - haben nicht den Mut aufgebracht, diese Wahrheit auszusprechen und im Bundestag abzusichern. Hätte es dafür keine Mehrheit gegeben, dann hätte die Bundeswehr abziehen müssen.

Es ist unredlich, einem Oberst die politische Last zusätzlich zu seiner moralischen und militärischen Verantwortung für die Entscheidung aufzubürden. Das ginge auch am Kern des Problems vorbei. Nicht einmal Minister Karl-Theodor zu Guttenberg steht im Mittelpunkt. Er hat mit unerklärbaren Äußerungen den Skandal befeuert und den Angriff zunächst als angemessen bezeichnet, selbst wenn es Verfahrensfehler gegeben habe. Allein: Es ging in Kundus nicht um das richtige Verfahren. Das Bombardement war kein bürokratischer Akt.

Die eigentliche Verantwortlichkeit für das Bombardement und die Verschleierung liegt bei der alten schwarz-roten Bundesregierung, bei der Kanzlerin, dem damaligen Verteidigungsminister und selbst dem Außenminister, dem das wirkliche Bombenziel ebenfalls nicht verborgen geblieben sein dürfte. Alle haben geschwiegen mit Verweis auf einen irgendwann von der Nato zu erstellenden Bericht. Alle haben geschwiegen, obwohl es ihre Pflicht gewesen wäre, die wahren Hintergründe des Angriffs mitzuteilen. Sie zahlen nun den Preis dafür, aber auch für neun Jahre Selbstbetrug. Dieser Preis könnte sehr hoch ausfallen.

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